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Advent, Advent, die Feder brennt – VOL. 1:

FLUCH UND SEGEN

 

Kapitel I: AUSGANG 3.12.

LIMITIERT: HERR PASTELL

Herr Pastell hatte lange Zeit darauf verwendet, das Vertrauen seiner Therapeuten zu gewinnen. Heute sollten seine Anstrengungen zum ersten Mal greifbare Früchte tragen. Das Weißlicht aus den Neonröhren über ihnen flackerte ein wenig, als sein erster und längster Therapeut ihm gegenüber Platz nahm. Er hatte außerhalb der Reihe einen Termin mit ihm vereinbart. „Sie haben große Fortschritte gemacht, Herr Pastell. Das ist etwas, was nicht viele schaffen“, war das Erste, was der Therapeut zu ihm sagte. „Sie können stolz auf sich sein.“

Herr Pastell nickte und lächelte. Der Therapeut lächelte zurück. Das hatte er bislang nie getan. „Ich habe gute Nachrichten für Sie. – Ihnen wurde der Weihnachtsausgang bewilligt.“ „Dann soll es bis dahin schneien. Ich habe eine Idee für ein Kunstwerk, das dort besonders gut zur Geltung kommen würde.“

„Die Chancen stehen gut“, meinte der Mann, während er rasch etwas auf dem Bogen in seinem Klemmbrett vermerkte. Herr Pastell runzelte die Stirn. „Wollen Sie mich nicht anschauen, wenn ich mit Ihnen rede?“

Der Therapeut sah überrascht auf. „Natürlich. Entschuldigen Sie. Aber Sie wissen ja, ich muss…“

Herr Pastell winkte ab, lehnte sich in dem Plastikstuhl zurück und starrte an die weiße Decke. Die klinische Reinheit der Forensik war eine Zumutung für seine künstlerische Ader und seine Liebe zu Farben. Sein Name – Pastell – täuschte über seine Vorlieben hinweg. Nicht die seichten Töne waren es, die seinen Blick erregten, sondern die kräftigen, von denen es in der Anstalt kaum welche zu finden gab – erst recht nicht in dunkelblau, -grau und rot. Alles Farben, die früher auf seiner Palette nicht fehlen durften.

Im Zuge seines unfreiwilligen Aufenthaltes hier hatte er das Malen pausiert. Er hielt es zwar für einen Verlust, seine Werke der Welt nicht zur Schau zu stellen, aber er hatte herausgefunden, dass sie die zartbesaiteten Leute erschreckten. Sie bewirkten, dass sich die meisten ihm gegenüber abweisender verhielten. Und das war unvorteilhaft, da er hier drin auf soziale Kontakte angewiesen war, um sich nicht zu Tode zu langweilen.

Doch inzwischen bluteten seine Augen von der Eintönigkeit, die ihn umgab. An den Schwarz-Weißmustern hatte er sich längst satt gesehen. Es wurde also Zeit zu gehen. Und der Therapeut hatte ihm gerade dafür den Schlüssel überreicht, wenigstens verbal.

„Haben Sie die Bewilligung schriftlich?“, fragte Herr Pastell.

„Bitte sehr. Hier ist eine Kopie.“

Herr Pastell überflog das Formular und begutachtete die Unterschriften. „Hier steht: In Begleitung von zwei Mitarbeitern, davon ein Sicherheitsgeschulter. Sind Sie sich sicher, dass das notwendig ist?“ „Nun ja, es ist Ihr erster richtiger Ausgang. Da gibt es Vorschriften und Lockerungsstufen. Schauen wir doch erst einmal, wie es funktioniert, Herr Pastell, und dann sehen wir weiter.“

„In Ordnung.“ „Sie müssen diesen Ausgang als Vertrauensbeweis verstehen. Für uns bedeutet es, dass Sie so gut mit uns zusammengearbeitet haben, dass wir uns sicherer sein können das Risiko, das von Ihnen ausgeht, einzuschätzen.“

„Ich habe Erfolge in meiner Impulskontrolle erzielt.“ „Da haben Sie Recht, Herr Pastell. Nichtsdestotrotz gibt es noch viel zu tun. Schließlich haben Sie selbst gesagt, dass Sie der Ausprägung Ihrer dissozialen Persönlichkeitsstörung zum Trotz der Erste unserer Patienten sein werden, die sich vollständig resozialisieren.“

„Sie können ruhig sagen, dass ich ein Psychopath bin“, Herr Pastell beugte sich ein wenig vor, um Vertraulichkeit zu signalisieren. „Wie heißt es noch gleich? … Ah. Man soll das Kind beim Namen nennen. Und ich bin doch jetzt so etwas wie Ihr Kind, oder?“

„Nun ja, Herr Pastell. Ich denke, das trifft es wohl nicht ganz. Sie sind kein Kind. Sie müssen Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen – und das lernen Sie unter anderem mit mir.“ Der Therapeut räusperte sich. „Und genau deshalb bekommen Sie heute noch eine Aufgabe von mir. Wenn Sie sich darauf einlassen, können Sie sie sicher mit Bravour lösen.“

„Und was ist das für eine Aufgabe?“

„Sie schreiben einen Wunschzettel. Es mag sich banal anhören.“ „Oder kindisch“, warf Herr Pastell ein. Der Therapeut nickte unbekümmert. Herr Pastell fragte sich, ob er seinen Witz nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte und merkte, dass leichter Groll in ihm emporstieg. Aber dann legte er seine beiden Hände auf die Bewilligung, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte und entschied sich gegen einen gehässigen Kommentar.

„Jedenfalls möchte ich Sie bitten, den Wunschzettel auszufüllen mit Dingen, die Sie gerne auf Ihrem Ausgang erreichen möchten. Adressieren Sie den Zettel an jemanden: Es kann der Weihnachtsmann sein, das Jesuskind oder irgendjemand anderes, den Sie nicht persönlich kennen. Überlegen Sie, wie er oder sie Ihnen helfen könnte – und formulieren Sie Ihre Bitten. Denken Sie daran, man ist Ihnen nichts schuldig. Und anschließend schreiben Sie auf, was Sie Ihrem Gegenüber entgegenbringen – wie helfen Sie mit, dass Ihr Vorhaben gelingt?“ Der Therapeut reichte ihm ein vorbedrucktes Papier – mit einigen überflüssigen Schnörkeln und Verzierungen in den Ecken. „Ihren Zettel bringen Sie ausgefüllt zu unserer nächsten Sitzung mit. Wir sprechen darüber – und noch einmal, wenn Sie von Ihrem Ausgang zurück sind.“

„Ein vernünftiger Plan“, meinte Herr Pastell. Das „Wenn Sie wüssten…“, das dachte er nur.

FRISTLOS: TJORVIK

„Ich fass es nicht“, der Weihnachtswichtel zog so rasch an seiner Pfeife, dass die Elfin, die ihn mit nach draußen begleitet hatte, kurzzeitig im Rauch verschwand. Hustend wedelte sie mit ihrer Hand. „Tjorvik!“

„Entschuldige.“ Er hielt die Pfeife ein Stück weg von ihr und versuchte sich die zu Berge stehenden Haare zu glätten. „Verdammter Kerzenwachs!“, fluchte er und betrachtete voller Entsetzen die blonden Haare in seinen Händen, die er sich ausgerissen hatte.

„Ein bisschen weniger davon würde deiner Frisur auch nicht schaden“, murmelte seine Gegenüber, die sich wieder aus dem Rauch befreit hatte.

„Ist das dein Ernst, Anushka? – Ich könnte gerade emotionale Unterstützung gebrauchen!“

„Aber deshalb muss ich nicht lügen.“ Wie zur Bekräftigung ihrer eigenen Worte schüttelte Anushka den Kopf. „Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist, nur…“

„Was?“, unterbrach er sie. Außer sich warf er die Hände in die Luft und dabei fast sein teuerstes Stück – die Pfeife – fort. „Was willst du damit sagen? – Dass du damit einverstanden bist, dass mir Santa eben ohne Weiteres die Kündigung vor die Nase geknallt hat? Es wurde noch nie jemand gekündigt, der nicht mindestens die Kündigung mit Geschenkband überreicht bekommen hat. Und bei mir? Nichts davon!“

„Über die Art lässt sich streiten, aber…“

Tjorvik lief puterrot an und Anushka zog eine Grimasse: „Du musst schon zugeben, dass du deine Aufgabe nicht wirklich ernst genommen hast. Du hast so oft gestreikt oder mit Santa diskutiert, dass wir alle deine Arbeit miterledigen mussten.“ „Und warum habe ich gestreikt und diskutiert? – Weil ich es nicht einsehe, weshalb wir uns Jahr für Jahr diesen Stress machen, wenn wir doch ohnehin überflüssig werden! Wir sind nun mal nicht mehr hip. Unsere ollen Geschenke kommen nicht gegen die Konsumprodukte an. PS5 da, Gucci-Tasche hier – das haben wir nicht im Angebot, steht aber überall auf der Wunschliste! Mal ganz zu schweigen davon, dass keine Rentiere der Welt sich so hetzen lassen wie die Amazon Prime-Postboten.“

Tjorvik hatte sich in Rage geredet und musste Luft holen, sodass die Weihnachtselfin wieder zu Wort kam. „Santa sagt doch immer, die Menschen schreiben unsere Geschenke häufig nicht auf die Liste – weil sie für sie selbstverständlich sind. Wir sorgen dafür, dass sie nicht einmal daran denken müssen.“

„Was ist das denn für ein Geschäftsmodell?“, schnaubte Tjorvik. „Und das ist doch nicht Sinn und Zweck der Sache! Zeit schenken, wenn die Leute sich gar keine Zeit nehmen wollen? Zeit schenken, wenn sie nicht ankommt und sie andere dringender bräuchten? Schöne Begegnungen anbandeln, obwohl die gar nicht mehr wertgeschätzt werden?“

„Fest steht, dass du dich der Arbeit verweigert hast, Tjorvik. Und dass du mit all deinen Fragen und deiner Meckerei den Betrieb aufhältst. Santa feuert dich sicherlich nicht leichtfertig, aber es ist das Beste für alle, wenn du dir eine Arbeit suchst, bei der du nicht an einen strikten Zeitplan gebunden bist.“

Er starrte die Weihnachtselfin an. „Ich soll also wieder gewöhnlicher Wichtel werden, ja?“ Um sich noch einigermaßen im Zaum zu halten, nahm Tjorvik nahm einen kräftigen Pfeifenzug,– Schluck, hätte man sagen können –, sodass seine runden Augen kurz auf ihre doppelte Größe anwuchsen. „Das lasse ich mir nicht bieten! Ich besorge mir einen Anwalt.“

Anushka zuckte mit den Schultern: „Tu, was du nicht lassen kannst.“

Plötzlich brach unter seiner Hysterie die Verzweiflung hervor, als sich seine Arbeitskollegin abwenden wollte. „Aber, Anushka! Was wäre das für ein Abstieg?! Erinnerst du dich nicht mehr, wie viele Bewerbungsverfahren wir durchlaufen mussten?“

„Doch“, meinte sie. „Das ist bei mir noch nicht so lange her wie bei dir. – Und ich habe keine Mutter, die mit Santa per Du war und im Weihnachtskomitee gesessen hat“, fügte sie etwas säuerlich hinzu. „Geh nach Hause, Tjorvik. Du wirst ohne Probleme eine andere Stelle finden. Und Santa stellt dir bestimmt trotzdem ein gutes Zeugnis aus.“

„Trotzdem?“, wiederholte er. „Trotzdem?! – Anushka, ich dachte, wir wären Freunde!“

„Freundschaften pflegt man. Man nimmt sich nicht immer nur von ihnen, wenn man etwas braucht, Tjorvik. – Weißt du, eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, aber vielleicht hast du dich mit deinen Streitereien auch deshalb vor dem Job gedrückt, weil du eigentlich überhaupt nichts von den Dingen verstehst, die wir verschenken.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ Tjorvik auf dem Innenhof der Weihnachtswerkstatt zurück.

In seinem Missmut wollte fest auf den Boden stampfen – aber wie üblich ließ ihn die Wolkendecke weich einsinken. Wütend stieß er einen Schrei aus, schlug auf seine Tasche, in der die Kündigung steckte und biss so fest auf seine Pfeife, dass sich die Abdrücke seiner Zähne ins Holz des Mundstücks bohrten und er Kieferschmerzen bekam.

Dabei bemerkte er zufällig, wie sich in der Chefetage der Werkstatt etwas hinter dem Eisblumen besetzten Fenster regte. Der Weihnachtswichtel sprang mehrmals in die Luft, sodass sich jedes Mal sein maßgeschneiderter Anzug über seinem Wohlstandsbäuchlein spannte und schüttelte dabei seinem Boss die Faust wild entgegen. „Verflucht seist du, Santa! – Dir zeig ich’s!“

 

Als Tjorvik nach Hause stapfte, sprang seine Zipfelmütze in seinem Rücken trotzig auf und ab. Zusammen mit dem Tabak in seiner anhaltend brennenden Pfeife verdampfte auch ein Bruchteil seiner Wut.

Das war schlecht, denn er hatte niemanden, den er anbrüllen konnte, um sich selbst wieder anzustacheln – und das bedeutete, das sich ein kleiner, aber schneidender Faden Traurigkeit um seine Gedanken legte. Hätten sie passendes Geschenkpapier gebraucht, wäre es nicht länger mit aufgeplusterten Angrybirds, sondern mit kahlen Weidenbäumen bedruckt gewesen.

Tjorvik ließ die Schultern hängen – sie sanken immer tiefer. Seine Augen begannen zu brennen, aber er redete sich ein, dass es vom Pfeifenrauch kam.

Ihn beherrschte nur eins: Ich will meinen Job zurück.

Kapitel II: VORBEREITUNGEN 10.12.

TJORVIK

Eine Woche später war das „Ich will meinen Job zurück.“ einem „Ich weiß nicht mehr, was ich will.“ gewichen. Der Weihnachtswichtel saß in seinem Ohrensessel und rauchte vor sich hin. Seine Pfeife war inzwischen ordentlich in Mitleidenschaft gezogen worden – ebenso wie seine Wohnung. Im Wohnzimmer seiner kleinen Wohnung in Wolkenend stapelten sich leere Lieferkartons von Wichtelando und überall auf dem Tisch lagen Geschirr und Essensreste verteilt. Tjorvik suhlte sich in Selbstmitleid über seine Kündigung – doch heute war der Moment gekommen, an dem er keinen Gefallen mehr daran fand. Es reichte ihm. Er musste etwas unternehmen.
Das sagte er sich nun schon seit ein paar Stunden und doch hatte er es bisher nicht geschafft, sich von seinem Sessel zu erheben und einen Fuß vor die Tür zu setzen. Die Pendeluhr ihm gegenüber an der Wand zeigte an, dass es kurz vor Mittag war. Für gewöhnlich wäre er gerade damit beschäftigt, alle möglichen kleinen und großen Geschenke mit verzauberter Folie zu verpacken. Gemeinsame Zeit, neue Begegnungen und Weihnachtswunder waren fragile Fracht. Nicht materielle Geschenke bedurften besonderen Schutzes, damit sie nicht verpufften, ehe sie ihr Ziel erreichten. Es war eine verantwortungsvolle Aufgabe, die nur den zuverlässigsten Wichteln der Weihnachtswerkstatt anvertraut wurde, die schon einige Jahre Berufserfahrung hatten. Die Geschenke in Watte und bedrucktes Papier zu wickeln, damit sie schön aussahen und durch Wolkendurchbrüche und den wilden Himmelsritt auf dem Rentierschlitten keinen Schaden nehmen oder verpuffen konnten, war Kinderkram.
Doch offenbar traute Santa Tjorvik nicht einmal mehr diese Aufgabe zu. Der Wichtel wollte es sich nicht offen eingestehen, aber die Kündigung hatte ihn sehr gekränkt – mehr noch, zusammen Anushkas Worten hatte sie bewirkt, dass er an sich selbst und seinen Fähigkeiten zweifelte. Dabei hatte er nie etwas anderes gelernt oder getan. Die ganzen Jahre über war die Weihnachtswichtelwerkstatt sein Lebensinhalt gewesen. Ab Herbst gingen die Vorarbeiten und das erste Basteln los, im Winter das Verpacken, im Frühling der Frühjahrsputz und im Sommer verwandelte sich die Werkstatt in ein riesiges Ferienhaus für die Weihnachtswichtel.
Ächzend zog sich Tjorvik an den Lehnen des Ohrensessels in die Höhe. Schön plüschige Lehnen, die dazu einluden, sein Vorhaben gleich wieder zu vergessen und sich in das warme Schaffell in seinem Rücken zurücksinken zu lassen. Doch plötzlich läutete die Klingel.
Er erhob sich, strich sich notdürftig die hängengebliebenen Essenskrümel aus dem Bart und watschelte mit seinen steif gewordenen O-Beinen zur Tür. „Wer da?“ Er lugte durch den Türspion, wegen dem man ihm auf dem Wichtelcollege immer belächelt hatte, aber konnte nichts erkennen, so milchig, wie er inzwischen geworden war.
„Ich bin’s.“ Es war Anushka. Mit dem Erklingen ihrer Stimme ließ sie seine heimliche Hoffnung verstummen, Santa persönlich statte ihm einen Besuch ab, um ihn um Verzeihung zu bitten.
Notgedrungen schob Tjorvik die Haustür eine Handbreit auf und lugte durch den Spalt. Ungeachtet ihrer letzten Worte an ihn mochte er die Weihnachtselfin. Es war ihm peinlich, dass sie ihn so verlottert und seine Wohnung so unordentlich sehen sollte.
„Hey Tjorvik“, sagte sie, offenbar durch sein grimmiges Schweigen verunsichert. „Ich wollte nur mal nachsehen, wie es dir geht.“
„Prima“, meinte er. „Alles bestens.“ „Ach ja?“
Er nickte. „Musst du nicht zurück in die Werkstatt?“ „Es wird schon so schnell niemand merken, dass ich weg bin. Selbst wenn, wird mich niemand verpetzen“, sie lächelte ein bisschen. Er nicht. „Santa lässt uns… euch auch Sonntags schuften und bezahlt euch nicht einmal Feiertagsbonus. Da sollte ein Freigang drin sein.“
„Das sehe ich auch so.“ Anushka räusperte sich. „Tjorvik, was ich zu dir gesagt habe… Es tut mir leid. Ich wollte ehrlich mit dir sein, aber es war vielleicht nicht der beste Zeitpunkt dafür. – Jedenfalls keiner, den eine einfühlsame Freundin wählt.“
Tjorvik musste kurz schlucken. Hatte sie sich gerade seine Freundin genannt? „Ach.“ Er winkte ab, in der Absicht, möglichst gelassen zu wirken. „Halb so wild.“
Die Weihnachtselfin runzelte zwar die Stirn, schien aber erleichtert. „Willst du nicht vor die Tür kommen und wir gehen ein Stück?“ Der Wichtel wusste nicht, ob sie den Braten witterte, aber um nicht noch mehr den Verdacht zu erregen, er käme mit seiner Situation nicht zurecht, willigte er ein: „Meinetwegen. Warte kurz hier. Ich brauche noch meine Schuhe.“
Als er die Tür hinter sich wieder angelehnt hatte, rieb er sich durchs Gesicht und machte ein paar halbherzige Dehnübungen. Dann setzte er seine Zipfelmütze auf und straffte die Schultern. Seine Lust, das Haus zu verlassen hielt sich in Grenzen, aber es war immer noch besser als Anushka sein Haus in diesem Zustand vorzuführen.
Draußen schlug ihm kalter Wind ins Gesicht. Die Wangen der Weihnachtselfin waren bereits gerötet und sie trug einen langen Mantel aus mehrlagigem weißem Filz mit roten Schneeflocken darin. Gemächlich setzten sich die beiden in Bewegung und wanderten über den feuchten Wolkenboden.
„Was hast du denn jetzt vor?“, wollte Anushka wissen.
Er hörte sich schwer einatmen und hustete. „Ich gönn mir eine Auszeit“, behauptete er dann. „Vielleicht geh ich zum ersten Mal Skifahren, ohne dass ich einen Geschenkesack auf dem Rücken habe.“
„Rebellisch.“ Anushka grinste: „Wichtel sind nicht gerade für Urlaubmachen bekannt.“ „Vielleicht werde ich ein neuer Trendsetter“, meinte er ironisch.
„Weißt du, ich habe nochmal drüber nachgedacht. Ein paar der Dinge, die du in der Werkstatt kritisiert hast, sehe ich jetzt genauso. Erst diese Woche sollte ich die Wunschzettel einer Familie einlesen – aber sie wünschen sich nichts, was wir ihnen erfüllen könnten, obwohl unsere Geschenke doch eigentlich die wertvolleren sind. Vielleicht verlieren die Menschen tatsächlich den Blick für das Wesentliche – oder ihre Bedürfnisse ändern sich.“
„Santa verschließt seine Augen davor, dass er etwas unternehmen muss, wenn das Weihnachtsfest nicht überflüssig werden und zu einem weiteren Fest verkommen soll, das alleine wegen des Kommerzes und der Gelegenheit des Konsums fortbesteht.“
„Vielleicht musst du ihm das auf andere Weise versuchen beizubringen, als du es bisher getan hast.“ Anushka wirkte ein wenig verlegen. „Du kannst etwas harsch sein, weißt du?“
Erst grummelte Tjorvik etwas Unverständliches, dann meinte er: „Na ja, jetzt hat Santa ja einen Weg gefunden, sich nicht mehr mit mir herumschlagen zu müssen.“ „Hast du schonmal überlegt, eine Art Komitee zu gründen?“, fragte sie. Ihre Augen begannen zu funkeln. „So eine Art Weihnachtsrettungs-Komitee?“
Er blinzelte überrascht. „Der Gedanke ist mir nie gekommen.“ „Denk‘ mal darüber nach.“ Wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm ein. Sie war ein gutes Stück größer als er – schlanker, und auch viel hübscher. Tjorvik spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss – und diesmal lag es nicht am Wind.
„Das… das mache ich“, stotterte er und schüttelte gleichzeitig den Kopf, um die Gedanken und Gefühle loszuwerden, die plötzlich darin herumschwirrten. Er blickte in den blauen Himmel und besann sich auf das, worüber sie gesprochen hatten. „Damit würde ich Santa auf jeden Fall eins auswischen“, platzte es aus ihm heraus.
„Das sollte aber nicht deine erste Motivation sein“, meinte Anushka lachend.
Der Weihnachtswichtel antwortete nicht. Nun, wo er es laut ausgesprochen hatte, wusste Tjorvik: Das, was er wollte, war, sich an Santa zu rächen. Er würde nicht in den Urlaub fahren. Sein neuer Job war es, Santas Autorität zu untergraben und ihm mit den Ideen, die ihm schon lange vorschwebten, einerseits Konkurrenz und den Weihnachtswichtel für Santa andererseits unersetzlich zu machen.
Ein genialer Plan, wie er fand. Aber dazu würde es einige Nachforschungen brauchen.
„Tjorvik?“ Anushka wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Ich muss langsam zurück.“ „Ja… ja, natürlich.“ Er räusperte sich: „Danke, dass du gekommen bist.“
Sie drückte ihn kurz: „Gerne. Ich kann heute Abend wiederkommen, wenn du möchtest.“
„Ach, lass uns das verschieben“, sagte er und strahlte sie an: „Wenn ich über die Sache nachgedacht habe, ja?“
Kurz wirkte sie ein wenig enttäuscht, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich so schnell zu einem unbefangenen Lächeln, dass er sich nicht sicher war, ob er sich getäuscht hatte. „In Ordnung. Dann hoffe ich, dass dir das Nachdenken hilft. Bis dann, Tjorvik.“
Sie hakte sich aus und ging davon. Tjorvik blieb stehen, als sie noch einmal kurz die Hand hob und dann zwischen den anderen Häusern der Wichtelsiedlung Wolkenend verschwand. Sie würde zurückkehren und gleich wieder die knisternde Zauberfolie zwischen den Fingern spüren, während sie vom Gelächter und munteren Geschnatter in der Weihnachtswerkstatt umhüllt wurde.
Kurz wallte in Tjorvik der Neid auf – eine Empfindung, die allen Wichteln augenblicklich schlecht werden ließ. Aber dann besann er sich auf seinen frisch gefassten Plan und es
ging ihm besser. Von neuem Tatendrang erfasst, ging er nicht zurück nach Hause, sondern in Richtung des Tannenbaumparks, um darüber nachzudenken, was er alles bei einem heimlichen Besuch in der Weihnachtswerkstatt in Erfahrung bringen musste. Die Gründung seines Weihnachtsrettungs-Komitee würde mit einem Einbruch beginnen.
 

HERR PASTELL

 

Nach der morgendlichen Medikamentenausgabe kehrte Herr Pastell in sein Zimmer zurück. Seit einiger Zeit musste er es sich mit einem anderen Patienten – Alan Lichthoff – teilen. Man hatte ihm erklärt, dass der Maßregelvollzug gerade überbelastet sei und man zusammenrücken müsse – Patienten wie Beschäftigte. Es gefiel ihm nicht besonders, aber er wusste auch, dass es sich um einen Vertrauensbeweis seitens der Einrichtung handelte, ihm einen Zimmergenossen zu geben. Alan Lichthoff plapperte viel und hatte gelegentlich Wahnvorstellungen, dafür sorgte er nahezu neurotisch für Ordnung und Sauberkeit in ihrem Zimmer. Deshalb nannte Herr Pastell ihn inzwischen den Plapperputzer.

Auch jetzt war Alan damit beschäftigt, mit dem Zeigefinger über sämtliche Oberflächen zu fahren, um sie auf mögliche Staubansätze zu überprüfen. Als Herr Pastell eintrat, sah er auf und strahlte ihn an: „Herr Pastell!“

„Was gibt’s?“, fragte er und setzte sich auf sein Bett. Alan runzelte kurz die Stirn, als die Bettdecke dabei Falten schlug, aber er fasste sich schnell wieder. Herr Pastell hatte ihn bereits einmal spüren lassen, was es bedeutete, ihn zu kritisieren. Das wollte er wohl nicht noch einmal riskieren.

„Es ist doch bald Weihnachten!“, fuhr der Plapperputzer fort und griff aufgekratzt nach einem Microfaserhandtuch. Gleich an seinem ersten Tag in Herrn Pastells Zimmer hatte er einen ganzen Stapel davon bei den Reinigungskräften der Station geordert – inklusive Längen-, Breiten- und Materialangaben.

Herr Pastell zog die oberste Schublade seines Nachttisches auf und holte den Wunschzettel hervor, den ihm sein Arzt mitgegeben hatte. Er hatte noch immer nichts darauf geschrieben.

„Meine kleine Tochter kommt am ersten Weihnachtstag. – Kriegen Sie auch Besuch von Ihrer Familie?“

Ohne aufzusehen, schüttelte Herr Pastell den Kopf und strich mit jedem einzelnen Finger behutsam über das marmorierte Papier in seiner Hand.

„Das tut mir leid“, meinte der Plapperputzer verlegen und versuchte den neu ausfindig gemachten Staubfänger – die Oberkante ihres Fernsehers – mit noch schnelleren Wischbewegungen zu bezwingen.

„Wieso tut es Ihnen leid?“, fragte Herr Pastell abwesend. „Ich will sie schließlich auch nicht sehen – abgesehen von meiner Schwester, vielleicht. Aber die wird sich schon noch melden.“

„Werden Sie sie besuchen? – Wenn Sie Ausgang haben, meine ich.“

„Ich weiß noch nicht.“ Herr Pastell gähnte.

„Sind Sie noch müde?“

„Oh nein“, gab er zurück. „Mich langweilen Ihre Fragen, Plapperputzer.“

Alan Lichthoff verstummte, aber Herr Pastell hatte kurzzeitig die Befürchtung, er könnte mit dem trockenen Tuch den Fernseher durchschrubben. „Wollen Sie nicht an einer anderen Stelle weitermachen?“ Der Plapperputzer nickte hastig und sah sich mit einem unsteten Blick um, der immer wieder an seinem Zimmernachbarn hängen blieb.

„Was haben Sie getan, Herr Pastell?“, platzte dann plötzlich die Frage aus ihm heraus, die er sich bisher nicht getraut hatte zu stellen, die ihm aber seit dem Tag, als er Herrn Pastell kennengelernt hatte, auf der Zunge brannte. Ging es um ihn selbst, war Herr Pastell sehr gut darin, die Gedanken anderer zu lesen.

Genüsslich lehnte er sich in seinem Bett zurück gegen die Wand. „Wollen Sie der Erste von hier drinnen sein, der es erfährt?“, fragte er den Plapperputzer dann.

Alan Lichthoffs Mimik zuckte, als sei er unsicher, ob Herr Pastell mit ihm spielte oder ihm ein echtes Angebot zu unbekanntem Preis machte. „Nun, ich weiß, dass niemand diese Frage gerne hört“, begann er zu drucksen. „Aber von mir wissen Sie ja schon alles. Die alte Frau, von der ich dachte, sie würde mich erschießen und auf sie eingeschlagen habe…“ „Ja, ja, ja“, unterbrach ihn Herr Pastell genervt und nahm einen Kugelschreiber aus der letzten Schublade.

Er machte ein paar Schreibbewegungen über dem leeren Wunschzettel, aber von gegenüber ließ sich nicht erkennen, ob er tatsächlich etwas aufschrieb.

„Also“, murmelte der Plapperputzer schließlich kleinlaut. „Erzählen Sie es mir?“

„Ich habe jemanden umgebracht“, erklärte Herr Pastell wie beiläufig. „Vielleicht auch mehrere. Das ist lange her.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Alan Lichthoff blass im Gesicht wurde und in seinem Wischwahn wie vom Blitz getroffen erstarrte.

Herr Pastell lächelte schmal. „Haben Sie keine Angst“, er deutete mit dem Kuli auf den Wunschzettel. „Sie stehen nicht auf meiner Liste.“

Alan Lichthoff schluckte. „Aber… warum?“, flüsterte er.

„Sie sind unterhaltsam – auf gewisse Weise.“ Herr Pastells schwang sich aus dem Bett auf und klopfte seinem Zimmergenossen väterlich auf die Schulter, der unter ihm ein wenig zusammenzuckte. „Ich mache doch nur Scherze mit Ihnen, Herr Lichthoff. Ich gebe zu, diese Fähigkeit bin ich noch dabei, auszubauen.“

„Also haben Sie gelogen?“

Herr Pastell war verwirrt. „Nein“, sagte er. Der Plapperputzer holte tief Luft. „Eigentlich wollte ich eben von Ihnen wissen, warum Sie das getan haben – warum Sie jemanden umgebracht haben.“

„Ich wollte die Schönheit und den Schrecken erleben, die dem Tod innewohnen“, erklärte Herr Pastell, genauso ruhig wie unumwunden. „Für meine Kunst. – Ich bin Virtuose. Ich fühle mich von allem Bizarrem, von allem Grotesken und Avantgardistischem angezogen. Und der Tod ist all das. Tod ist Macht. Nicht Geld, nicht Ruhm, nicht Liebe – er ist, was unser aller Leben bestimmt. Ich wollte die Endgültigkeit dieses Ereignisses einfangen und festhalten. Ich wollte erfahren, was genau es ist, dass die Menschen den Tod so fürchten lässt, obwohl sie ihn allzu oft verdrängen. Aber es ist mir nicht gelungen.“

„Sie haben getötet, um mächtige Kunst zu erschaffen?“

Es ärgerte Herrn Pastell, dass der Alan Lichthoff seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen diese naturalistische Herangehensweise nicht zu schätzen wusste. Aber was konnte er von einem wahnhaften Plapperputzer schon erwarten. „Nun ja.“ Herr Pastell zuckte die Schultern. „Wie gesagt, ich habe mein Ziel nicht erreicht. Es ist Zeit, neue Wege einzuschlagen.“

Er knüllte den Wunschzettel in seiner Hand zu einer Kugel und schmetterte ihn in den Abfallkorb. Alan Lichthoff wirkte ein wenig erleichtert.

„Ich werde mir nichts wünschen, sondern zum ersten Mal jemanden ein Geschenk machen“, meinte Herr Pastell und verschränkte die Arme vor der Brust. Er grinste sogar ein wenig. Der Einfall dazu war ihm spontan gekommen, aber er hielt es sofort für eine gute Idee.

Seine Schwester würde sich bestimmt über eine Aufmerksamkeit freuen. Ihm bedeuteten solche Dinge nichts, doch inzwischen hatte er gelernt, dass es wichtig war, anderen ab und zu seine Zuneigung zu bekunden, wenn man sie im eigenen Leben behalten wollte. Und seine Schwester hatte es verdient, dass er sie endlich wissen ließ, dass sie ihm wichtig war.

In dem Augenblick, als Herrn Pastell all diese Dinge durch den Kopf gingen, war Herr Pastell äußerst zufrieden mit sich selbst.

Kapitel III: Einbruch 23.12.

 

- WINTEREINBRUCH: FAMILIE PINECONE
 

Dichter, grauer Nebel lag über den Hügeln bei Lamberton. Durch die Schlaglöcher und über die Bruchstellen der Küstenstraße hoch im Norden Englands – kurz hinter der schottischen Grenze – schlingerte ein vollbepackter Van. Das Licht seiner Scheinwerfer drang kaum einige Meter weit, während die Scheibenwischer hektisch gegen ein Gemisch aus Regentropfen und Schneeflocken ankämpften.
Auf der Rückbank zog sich Mary ihren Mantel enger um die Schultern und rieb sich die kalten Hände. „Ist die Heizung ausgefallen, Papa?“ „Konzentrier‘ dich aufs Fahren, Fred“, mahnte ihre Mutter Rose und begann auf dem Beifahrersitz die Lüftungsschalter nacheinander zu betätigen. „Scheint ganz so“, stellte sie fest. „Aber es sollte nicht mehr weit sein.“
„Mir ist kalt“, maulte Mary. „Sei nicht so eine Memme“, frotzelte ihr kleiner Bruder von rechts und knuffte sie in die Seite. Mary sah ihn böse an: „Ist ja nicht so, als hätte ich nichts Besseres zu tun, als zwei Tage vor Weihnachten in die Einöde zu fahren, um zum Haus einer Großtante zu fahren, die keiner von uns kannte.“
„Hättest ja zu Hause bleiben können“, Alfie zuckte die Schultern. „Aber bist du nicht gespannt herauszufinden, welche dunklen Geheimnisse unser Großtantchen hatte?“ „Kein bisschen.“ Mary rümpfte die Nase: „Wahrscheinlich finden wir nichts als alte Wäsche und ein paar Ratte – falls das Haus selbst nicht schon in sich zusammengefallen ist.“
„Mary“, mahnte sie ihre Mutter sanft.
Mary stöhnte. „Keine Ahnung, was ihr euch davon erhofft. Anstatt euch die Mühe zu machen, her zu fahren, hättet ihr es doch direkt verkaufen können.“ „Wir wissen doch gar nicht, was die Bude wert ist“, Alfie rüttelte sie aufgekratzt an der Schulter. „Stell dir vor, wir finden einen unterirdischen Keller oder so!“
Ihr Bruder war ein kleiner Nerd, was das Erkunden von abgelegenen Orten anging. In der Schule hatte er Freunde, mit denen er am Wochenende mit Metalldetektoren ausschwärmte und nach Lost Places suchte. „Also ich säße jetzt lieber bei einem warmen Frühstück vor einem Tannenbaum, der darauf wartet, geschmückt zu werden.“
„Schatz, ich kann dich ja verstehen“, meldete sich ihr Vater von vorne zu Wort. „Aber eure Mama und ich haben dieses Jahr nun mal keinen Urlaub mehr nehmen können, deshalb haben wir nur das lange Wochenende, um uns das Haus anzusehen und zu entscheiden, ob wir es verkaufen oder… “ „Oder was?“, Mary richtete sich ungläubig auf der Sitzbank auf. „Ihr überlegt doch nicht im Ernst, das gegen unsere Wohnung einzutauschen?“
„Nein, nein. Aber wenn es dort nett ist, könnten wir es vielleicht als Ferienhaus nutzen und vermieten.“ „Pff“, machte sie. Als sie ihr Handy aus dem Mantel zog, hatte sie natürlich keinen Empfang – wie bereits seit einer halben Stunde. Jetzt konnte sie sich noch nicht einmal weniger langweilen oder sich bei ihrer Freundin Tatjana über den hirnrissigen Wochenendtrip auslassen.
„Da!“, plötzlich zeigte Alfie aus dem Fenster. Aus dem Nebel schälten sich die schemenhaften Umrisse eines Gebäudes. „Meint ihr nicht, dass könnte es sein?“

Nachdem Fred den Van geparkt hatte, stieg die Familie aus, um das Anwesen näher in Augenschein zu nehmen. Man hatte ihnen zwar eine Adresse gegeben, aber da auch das GPS-Signal hier nicht das Beste war, ließ sich nur ungefähr erahnen, wo das Haus ihrer verstorbenen Großtante zu finden war. Lag Alfie allerdings mit seiner Vermutung richtig, handelte es sich bei dem ehemaligen Zuhause ihrer Verwandten um ein ganzes Herrenhaus.
Vor einigen Wochen hatte es die Mutter von Mary und Alfie überraschend geerbt. Alles, was Rose über ihre Tante wusste, beruhte auf Erzählungen ihrer seit einigen Jahren verstorbenen Mutter:
Erst hatten sich die Schwestern aus den Augen verloren und als Jane – die besagte Tante – mit ihrem seltsamen Mann in das Anwesen bei Lamberton gezogen war, hatte sie für über zwanzig Jahre den Kontakt zu Rose‘ Mutter Alva abgebrochen. Nachdem Janes Mann dann unter mysteriösen Umständen verschwunden war (Jane weigerte sich, über seinen Verbleib zu sprechen), hatten die Schwestern nach über zwanzig Jahren wohl wieder hin und wieder telefoniert. Doch laut Alva war Jane bei ihren Gesprächen zum Schluss immer schrulliger und eigentümlicher geworden.
Kein Wunder, dachte Mary. Als ihr Vater es aufschob, gaben die Scharniere des eisernen Eingangstores ein nervtötendes Quietschen von sich.
Alles an der äußeren Erscheinung des alten Herrenhauses und des umliegenden Grundstücks wirkte schroff und heruntergekommen. Inmitten des steinernen Vorplatzes befand sich ein Springbrunnen, der teilweise eingestürzt war und mit den hässlichen Fratzen der Wasserspeier nicht gerade zum Verweilen einlud; die Fenster der äußeren Flügel des Hauses waren mit Brettern verbarrikadiert und ein Stück des linken Dachstuhls schien zu fehlen – oder vielmehr schien dort ein Kaminschacht in sich zusammengefallen zu sein und ein Loch ins Dach gerissen zu haben.
„Was für eine Bruchbude“, platzte es aus Mary heraus. Das konnte kaum etwas mit dem zu tun haben, was sich ihre Eltern unter einem Ferienhaus übers Wochenende oder gar zum Vermieten vorgestellt hatten.
Obwohl ihre Mutter ihr nicht so offensichtlich Recht geben zu wollen schien, kratzte sich Alva an der Stirn: „Jane ist das wohl alles etwas über den Kopf gewachsen…“ Sie ging zum Eingang und nahm neben der doppelflügeligen Tür das schiefe Bleischild, auf dem Name und Hausnummer eingestanzt waren, vom Haken. „Aber die Adresse stimmt.“
Im Gegensatz zu allen anderen schien Alfie nach wie vor begeistert „Boah… - Und das gehört jetzt alles uns? Einfach so?“
Fred brummte etwas wie „Freu dich nicht zu früh“ und machte sich daran, das Haus mit dem Schlüssel aufzuschließen, den sie vom Notar bekommen hatten. „Also, Kinder. Wir gehen da jetzt erstmal zusammen durch, in Ordnung? Es war schon lange keiner mehr hier, denken wir, daher könnte uns alles Mögliche erwarten.“
Mary zog eine Grimasse: „Aber ihr habt euch hoffentlich schon dazu entschieden, dass wir heute definitiv wieder nach Hause fahren, oder?“ Alva seufzte: „Wenn du das so unbedingt willst…“ „Komm schon, Mama! Ich will morgen nicht mit Erfrierungen aufwachen.“
„Lass uns doch erstmal reingehen“, quengelte Alfie.

Mary fand, dass das Haus durch und durch gruselig war. Sie war keine Zwölf mehr und hatte die obligatorischen „Freitag der 13.“-Horrorfilmnächte an Halloween und Geburtstagen von ihren Freunden bereits hinter sich. Dieses alte Herrenhaus wirkte genauso wie eines von diesen Spukhäusern in der Einöde, in die ahnungslose Familien einzogen, um von Kindergeistern oder frei herumlaufenden Psychopathen terrorisiert zu werden.
Alles darin knarzte, quietschte oder ächzte, Türen knallten, weil irgendwo Fenster offenstanden oder zerschlagen waren – und es war bitterkalt. Zu viert wanderten sie nach und nach durch jeden einzelnen der überdimensionierten Räume, wateten durch ein Raster aus scheinbar wahllos platziertem Mobiliar, aufgetürmte Kleiderberge und strichen sich regelmäßig die Spinnennetze aus Gesichtern und Haaren.
Mary hatte den Eindruck, dass ihren Eltern angesichts von so viel Chaos die Sprache weggeblieben war, während ihr kleiner Bruder von einer bizarren Faszination erfasst zu sein schien. „Wie hat sie es hier drin alleine so lang ausgehalten?“, fragte Mary, als sie einen der Räume betraten, die in einem besonders schlimmen Zustand waren – mutmaßlich Janes altes Schlafzimmer.
„Vielleicht war sie ja gar nicht allein“, meinte Alfie und nahm ein gerahmtes und eingeglastes Bild vom Nachtisch. Es war so dicht mit klebrigem Staub belegt, dass Alfie es schließlich aus seiner Fassung herausholte, damit man etwas erkennen konnte. „Hat Oma nicht mal was davon gesagt, dass sie glaubt, wir hätten einen Großcousin und eine Großcousine?“
„Kann schon sein.“ Mary nahm das Bild entgegen, dass Alfie ihr entgegenstreckte. „Lass mal sehen.“
Ihr lief ein kleiner Schauer über den Rücken, als sie das Foto betrachtete. Darauf zu sehen waren vier Personen – genau wie sie, zwei Erwachsene und zwei Jugendliche. Die Erwachsene war Jane, die unverwechselbare Ähnlichkeit mit ihrer Schwester hatte. Neben ihr stand vermutlich ihr Mann – im Anzug, mit einer Halbglatze und starrem Gesicht. Und das Mädchen und der Junge vor ihnen…
„Sie hatte also wirklich Kinder“, Marys Mutter trat hinter sie und sah ihr über die Schulter. Rose‘ Stimme klang dabei gleichzeitig erstaunt und ein wenig traurig. „Aber beiden muss etwas geschehen sein. Ansonsten wären sie es doch gewesen, die Jane beerbt hätten.“
„Vielleicht hat der Vater sie früh mitgenommen – die Kinder, meine ich“, meldete sich Fred von der anderen Ecke des Raumes her zu Wort, wo er sich mit zugehaltener Nase daran machte, den Kleiderschrank zu öffnen. „Auf dem Foto sind die Kinder schon Jugendliche“, widersprach ihm Rose und bat Mary, ihr das Foto zu geben.
Ihre Mutter drehte den Ausdruck um; und tatsächlich war auf der Rückseite ein Datum vermerkt worden. „Das war ´95, fast dreißig Jahre her.“
Niesend begab sich Alfie auf der anderen Seite des Bettes auf Tauchgang, um unter das Gestell zu schauen. „Steht noch etwas anderes drauf?“, wollte er dabei wissen.
„Hm…“ Rose zog die Stirn in Falten. „Offenbar hat Jane den Namen des Mannes angenommen. Irgendwas sagt mir der Name, ich komm‘ nur nicht darauf, was… Hier steht: Familie Pastell.“
„Aua!“
Alfie hatte sich bei dem Versuch, schnell aufzustehen, den Kopf gestoßen. „Meinst du, Pas-tell, wie der Mörder von Newcastle?“
„Ah ja, richtig.“ Während Mary neben ihr erstarrte, schien ihre Mutter von diesem Umstand völlig unbefangen zu sein und bemerkte lediglich weiter: „Der Name ist ungewöhnlich…“
Und vor allem selten. Mary lief ein zweiter Schauer über den Rücken. Es hatte keinen Sinn, sich bei Alfie zu versichern, ob er sich tatsächlich an den Namen oder die Meldung erinnerte – ihr Bruder, der nach vergrabenen Schätzen suchte, war selbstredend auch in True Crime-Storys vernarrt.
„Wie wär’s wenn wir an einem anderen Tag wiederkommen?“, schlug sie erneut vor, diesmal ein wenig zaghafter.
„Hast du etwa Angst, dass wir von Herrn Pastell einen Besuch abgestattet bekommen?“ Alfie grinste sie schamlos über beide Ohren an.
„Das ist nicht witzig“, fauchte sie ihn an.
„Ich kann dich beruhigen: Der sitzt schon seit Jahren in der forensischen Psychatrie.“
„Ah“, sagte sie ironisch. „Da bin ich ja total beruhigt. Obwohl – ich könnte ihm ja auch einfach meinen kleinen Bruder vorsetzen.“
Rose ging dazwischen: „Lasst es gut sein, Kinder. Du hast Recht, Mary. Mir ist auch die Lust vergangen, hier im Kalten herumzuwühlen – wir suchen ja nicht einmal nach etwas Bestimmten.“ „Nach einem freien Plätzchen vielleicht?“, gab Mary zurück.
Rose nickte resigniert. „Fred, kommst du? – Wir wollen fahren.“ „Stimmt gar nicht!“, rief Alfie dazwischen. „Ich will bleiben!“
„Vielleicht bleibt dir gar nicht viel anderes übrig.“ Fred hatte den Blick durch das einzige Fenster des Raumes gerichtet, dass nicht von außen zugenagelt oder von ihnen mit schweren Gardinen verhangen war. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Fred weitersprach und sich zu ihnen umdrehte: „Laut Wettervorhersage sollte es wärmer und nicht kälter werden… aber seht mal, wie es schneit!“
„Wie bitte!?“, alarmiert sah Mary ihren Vater an.
Rose schüttelte nur den Kopf: „Schnell zum Auto, alle miteinander.“

Draußen erwartete sie eine weitere böse Überraschung. Während der nörgelnde Alfie im Schlepptau sich noch darüber ärgerte, weshalb ihre Besichtigung ein so ein jähes Ende finden musste, stolperte er fast in seine Schwester hinein, die wie angewurzelt stehen blieb, als im Schneegestöber der Van in Sicht kam.
„Papa!“, rief sie laut durch den Schal, den sie sich vor den Mund presste. „– Hast du etwa das Licht angelassen?!“
Nervös stapfte ihr Vater zum Auto, das bereits einen Fuß tief im Schnee auf der abgelegenen Straße stand. Hastig öffnete die Fahrertür und betätigte die Zündung.
Der Motor gab nur ein müdes Stottern von sich, bevor er absoff. „Fred, das ist jetzt nicht dein Ernst…“, entfuhr es Rose.

 

- ABENDS | WERKSTATTEINBRUCH: TJORVIK
 

Tjorvik wuchtete den prall gefüllten Sack von seiner Schulter, als er auf seinem Beobachtungsposten Stellung bezog. Der Weihnachtswichtel hatte sich in den vergangenen Tagen bestens auf seinen geplanten Einbruch in die Weihnachtswerkstatt vorbereitet. Hätte er im Vorhinein gewusst, wie viel Zeit, Aufwand und Wichtelonen ein solcher Plan kostete, hätte er es sich wahrscheinlich anders überlegt.


Als im Inneren der Weihnachtswerkstatt pünktlich um sechs die Lichter gelöscht wurden, spannte sich über ihrem Lebkuchendach bereits der klare Sternenhimmel. Nach Wochen des ununterbrochenen Stresses schloss die Werkstatt am Dreiundzwanzigsten traditionell früher ihre Pforten. Für die meisten Wichtel und Elfen hieß es dann – wie für die Kinder, die sie beschenkten – noch einmal lange schlafen, bevor die Rush-Hour des Geschenkebringens anbrach. Und auch Santa verließ zum ersten Mal im Dezember die Werkstatt, um zum Stall zu gehen, die Rentiere vor die Schlitten zu spannen und die Navigationssysteme an den Geschirren einzustellen.


Tjorvik hatte sich im angrenzenden Tannenbaumhain versteckt und trug zur Tarnung eine gelbe Sternenmütze, ein dunkelgrünes Jackett und eine braune Hose. Einzig bei der blinkenden Lichterkette, mit der er sich eingewickelt hatte, war er sich nicht sicher, ob die nicht zu viel des Guten war. Allerdings reihte sie sich durchaus in das LED-Meer um ihn herum ein.


Nach und nach verließen die Weihnachtswichtel und -elfen die Werkstatt. Als Letzte trat Anushka hinaus. Unangenehm berührt beobachtete Tjorvik sie dabei, wie sie die Pforte abschloss. Er hatte sie längst bei ihr melden wollen, aber die Vorbereitungen hatten ihn so sehr in Anspruch genommen, dass er es darüber einfach versäumt hatte.
Einfach versäumt…, Tjorvik schämte sich ein wenig angesichts dieser lahmen Ausrede. Immerhin hatte Anushka ihn erst auf die Idee mit dem Einbruch gebracht.


Er erschrak, als sie den Kopf hinüber zum Tannenbaumhain wandte und duckte sich hinter die erste Tannenbaumreihe. „Tjorvik?!“ Er kauerte sich noch tiefer, schlug sich die Hand vor den Mund, um ihr nicht instinktiv zu antworten und drehte sich weg.
„Tjorvik?“ Er hörte ihre stapfenden Schritte im Schnee. Sie kam unaufhaltsam näher. „Was machst du denn da?!“ Offenbar hatte sie ihn bereits entdeckt. Der Wichtel unterdrückte ein Stöhnen. „Ich… äh… ich muss mich ganz dringend erleichtern!“
„Oh“, sie schien zurückzuschrecken – jedenfalls hielten ihre Schritte inne. „Entschuldige…“


„Nein, nein…“ Hastig sprang Tjorvik auf, als er befürchtete, sie könnte einfach verschwinden. „Mir tut es leid! Ich wollte mich längst bei dir melden, aber…“ Die Elfin lugte zwischen den Tannenbäumen hindurch. „Tjorvik, deine Hose…“ „Heilige Weihnachtskugel!“ Ihm schoss das Blut ins Gesicht. Seine Hose hatte sich in einem Zweig verfangen und hing ihm nach seinem Sprung unter den Kniekehlen. Verlegen raffte er sie wieder zurecht und versuchte dabei, den Sack mit seinen Einbruchsutensilien unter den Baum zu schieben.
Anushka kicherte ein bisschen und deutete auf die Lichterkette. „Wolltest du den Tannenbäumen Gesellschaft leisten?“ „Na ja…“ Er wollte eine plausible Erklärung abgeben, aber ihm fiel nichts weiter ein.
Die Elfin sah ihn verwundert an. Dann fiel ihr Blick auf den nur notdürftig versteckten Sack, bei dem sich zu allem Überfluss die Schnürung gelöst hatte und sie begann die Stirn zu runzeln. „Tjorvik?“, fragte sie streng. „Was hast du vor?“
Er antwortete nicht sofort. Schließlich entschied er, dass es keinen Zweck hatte sie anzulügen, zumal ihm das widerstrebte. „Ich brauche Material – Beweise, mit denen ich die Notwendigkeit des Weihnachtsrettungskomitees begründen kann.“
„Und dafür bist du ausgerechnet heute Abend hier und… liegst auf der Lauer?“ „Könnte man sagen“, meinte er ausweichend und merkte dabei selbst, wie dämlich das klang.


Plötzlich verwandelte sich ihre Miene in entsetzte Fassungslosigkeit. „Du willst doch nicht etwa einbrechen?“ Er biss sich schweigend auf die Unterlippe. „Tjorvik!“
„Würdest du nicht auch gerne herausfinden, welche Leichen Santa im Keller hat?“, versuchte er es halbherzig. „Nein“, erwiderte sie. „Und schon gar nicht auf diese Weise. Ich frage mich gerade eher, ob ich dich überhaupt kenne. So wie du dich die letzten Wochen verhalten hast, Tjorvik – das bist nicht du. Oder zumindest nicht der Weihnachtswichtel, in den ich mich… Wie auch immer“, unterbrach sie sich selbst. „Das enttäuscht mich.“
„Anushka…“ „Spar’s dir, Tjorvik. Ich habe jetzt Feierabend und gehe nach Hause. Mach, was du willst. Aber denk mal darüber nach, aus welchen Gründen du das tust.“ Sie machte auf dem Absatz ihrer eleganten Stiefel kehrt und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

 


Tjorvik war nicht der Wichtel für halbe Sachen. Und obwohl nach Anushkas Abfuhr das schlechte Gewissen an ihm nagte, hielt er an seinem Plan fest. Sobald er sich sicher war, dass Santa die Weihnachtswerkstatt durch den Hintereingang verlassen hatte, machte er sich mit seinem Sack auf den Weg.
Seinen Schlüssel für die Werkstatt hatte er abgeben müssen, aber da sich Santas Büro ohnehin im zweiten Stock befand, hatte Tjorvik beschlossen, den direkten, wenngleich nicht ungefährlichen Weg zu nehmen: nämlich den durchs Fenster.
Dafür war er sogar (nachdem er Wolkenend jahrelang nicht verlassen hatte) in das zwielichtige Klaubauterseck gereist, um sich bei den Kobolden einen Enterhaken zu besorgen. Den hatte er an ein dickes Seil gebunden, das er nun wie ein Lasso unten im Hof schwang – dort, wo Santa ihn bei seiner Kündigung verspottet hatte.
Während Tjorvik an diese Demütigung dachte, ließ er den Haken in die Höhe sausen. Das Fenster von Santas Büro zersprang mit einem lauten Klirren. Der Haken zog sich gleich im ersten Anlauf fest. Tjorvik zurrte sich den mitgebrachten Sack auf den Rücken begann an dem Seil in die Höhe zu klettern, indem er schräg an der Backsteinwand der Werkstatt emporlief.


Als er sich durch den Fensterrahmen hievte und das letzte Stück nach drinnen über die Fensterbank rollen ließ, rannen ihm die Schweißperlen vom Gesicht. Schwer keuchend hoffte er, dass das, was er hier finden würde, die Mühe wert gewesen war.
Er kramte in seinem Sack herum und holte die Lampe heraus, die er einem abgehalfterten Dschinn aus Wüsteria (noch weiter weg von Wolkenend als Klabauterseck) abgekauft hatte. Der Dschinn hatte ihm versprochen, die Lampe könne zwar ohne ihn Wünsche nicht mehr direkt erfüllen, aber im Chaos sei sie im Stande, das zu erhellen, was sich ihr Träger zutiefst wünschte.
Doch als Tjorvik an der Lampe rieb, blieb sie dunkel und nichts geschah. Nach einigen weiteren Versuchen warf Tjorvik sie verärgert zurück in den Sack. Offensichtlich war der Dschinn ein Scharlatan gewesen, der ihn übers Ohr gehauen hatte.


Also wühlte Tjorvik in den Schubladen von Santas Schreibtisch verschaffte sich rasch einen Überblick über die Listen, Formulare und Dokumente, die ausgebreitet obendrauf lagen. Hauptsächlich handelte es um Wunschzettellisten, unbearbeitete Urlaubsanträge vom Personal und Logistikpläne für die Geschenkeverteilung der diesjährigen Saison.
Der schwerste Gegenstand von Tjorviks Toolset war ein batteriebetriebener Kopierer von gerade noch handlicher Größe. Damit fertigte er hauptsächlich Kopien von den Wunschzettellisten an, von den Urlaubsanträgen machte er Fotos: Seine etwas eingestaubte, aber noch funktionsfähige Polaroidkamera fertigte Sofortabzüge mit Datumsstempel an.


Während er sich vor sich hin wuselte und immer nervöser wurde, je mehr Zeit verstrich,  fragte sich der Weihnachtswichtel allmählich, ob der Einbruch wirklich eine gute Idee gewesen war und was genau er sich eigentlich von alldem erhoffte. – Sicher, er würde Santa eins auswischen, wenn er ihn mit seiner Nachlässigkeit in der Personalfürsorge bloßstellte… aber war es ihm im Grunde nicht wichtiger, das Weihnachtsfest krisenfest zu machen und die damit verbundenen Gedanken zu retten? – Denn um das zu erreichen, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach auf Santa angewiesen sein.


Ich hätte auf Anushka hören sollen…
Der Gedanke ließ sich nicht abschütteln, aber Tjorvik versuchte, sich abzulenken, indem er sich dem Wunschzettellieferband zuwandte. Es lief direkt durch Santas Büro, eingelassen in die Seitenwand, von der aus es weiter in die Räumlichkeiten der Wunschbearbeitungsabteilung geleitet wurde.
Santa übernahm eine stichprobenartige Prüfung der Wünsche und wählte einige aus, um sich ihrer persönlich anzunehmen – andere wiederum wurden ihm von der Abteilung zugestellt; in der Regel solche, die nur schwierig zu erfüllen waren oder für die ein Kompromiss gefunden werden musste.
Zum Glück hatte Tjorvik neben der Dschinnlampe noch eine einfache Taschenlampe mitgenommen, denn das Sternenlicht von draußen reichte nicht bis in die dunkle Einlassung in der Wand hinein. Er leuchtete über das angehaltene Fließband, auf dem noch ein paar letzte Wunschzettel lagen. – Ha. Hat Santa wohl keine Lust mehr gehabt und seine Arbeit nicht gemacht. Aber ihm sagt ja niemand, was er zu tun oder zu lassen hat.


Ein Wunschzettel auf dem Fließband fiel Tjorvik sofort ins Auge – denn er war völlig zerknüllt. Absender war ein gewisser Herr Pastell.
Tjorvik fledderte den Zettel notdürftig auseinander und begann, ihn zu lesen. Zunächst war er dabei nicht besonders aufmerksam, doch als sein Kopf die einzelnen Wörter in Sätze zusammenfügten, hielt er irritiert inne. Er las keine Liste, sondern einen ganzen Brief. Aber sein Inhalt hatte nichts mit einem verträumten Gruß an Santa Claus tun. Tjorvik stockte der Atem. Er las die Zeilen – wieder und wieder – denn obwohl sie logisch Sinn ergaben, konnte – nein, wollte – er zunächst nicht begreifen, was er da vor sich hatte: Eine Absichtserklärung zum vorsätzlichen Mord.


Schließlich riss er sich los und zusammen. Er knüllte den Zettel wieder in seiner Hand zusammen und ballte sie zu einer Faust. Dann raufte er seinen Sack zusammen, ließ alles andere stehen und liegen und seilte sich in halsbrecherischer Geschwindigkeit ab.
Der Brief hatte schlagartig einen Schalter in ihm umgelegt. Das Weihnachtsrettungskomitee konnte warten – die Rettung von Menschenleben nicht.

Kapitel IV: AUSBRUCH 23.12.

 

- MORGENS: HERR PASTELL


Herr Pastell saß wieder seinem Therapeuten gegenüber. „Heute ist der große Tag, Herr Pastell“, sagte der Therapeut und wollte wissen: „Welche Gedanken haben Sie zu Ihrem Ausgang?“
Herr Pastell lächelte schmal: „Ich freu mich darauf.“
„Haben Sie den Wunschzettel ausgefüllt, den ich Ihnen mitgegeben habe?“
„Ja“, meinte er. „Aber ich möchte ihn nicht zeigen.“ „Warum nicht?“
„Der Inhalt ist mir zu persönlich“, log er. Diese Antwort hatte er sich bereits vorab zurechtgelegt. „Ich fühle mich nicht bereit dazu, ihn mit Ihnen zu teilen.“
„Hm.“ Der Therapeut runzelte die Stirn: „Das ist natürlich völlig in Ordnung. Es wundert mich nur etwas, weil Sie ansonsten mit allem recht offen umgehen und es wenig Dinge gibt, von denen ich bisher erfahren konnte, die Sie persönlich berühren.“ Er machte einen seiner Vermerke auf seinem Notizblock, bevor er wissen wollte: „Aber den Zettel haben Sie noch?“
Herr Pastell nickte – in gewisser Weise stimmte das sogar. Er hätte ihn mit Sicherheit noch in seinem Papierkorb, wenn der Plapperputzer nicht jeden Tag sämtliche Mülleimer in ihrem Zimmer leeren würde. Und dafür konnte Herr Pastell schließlich nichts.
„Also gut.“
„Ich habe an meine Schwester gedacht“, fügte Herr Pastell hinzu, als er merkte, dass sein Gegenüber nicht überzeugt war. „Wir haben eigentlich ein gutes Verhältnis, aber ich habe ihr das nie richtig gezeigt, glaube ich. Das will ich ändern.“
Die Miene des Therapeuten hellte sich auf. „Tatsächlich?“
„Nun ja. Ich will mit einem Geschenk zu Weihnachten anfangen.“
„Das klingt nach einer guten Idee, Herr Pastell. Wenn Sie möchten, dass Menschen Ihnen gewogen bleiben, ist es von Vorteil, wenn Sie ihnen Ihre Zuneigung zeigen.“
„Das weiß ich… habe ich hier gelernt, schätze ich.“ Herr Pastell konnte förmlich hören, wie sich der Therapeut bei den Worten seines Patienten innerlich selbst auf die Schulter klopfte und musste sich das Grinsen verkneifen.
„Das freut mich für Sie, Herr Pastell.“ Der Therapeut räkelte sich: „Denken Sie daran, was für ein besonderes Zeugnis Ihrer Disziplin und Selbstkontrolle ein reibungsloser Ablauf Ihres Ausgangs bedeutet. – Und dann wünsche ich Ihnen dort eine schöne Zeit und frohe Weihnachten!“
„Danke“, sagte Herr Pastell. „Die werde ich haben.“

 


- NACHMITTAGS: LANIA PINECONE-PASTELL
 

Sie saß am Tisch ihres kleinen Hotelzimmers in Marshall Meadows, vor sich den Adventskranz mit den vier heruntergebrannten Kerzen, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display wurde eine unbekannte Nummer angezeigt.
„Lania Pastell?“, meldete sie sich mit ihrem Namen und starrte auf den leeren Karton vor sich, in dem sie ihre Tiefkühllasagne gegessen hatte.
„Hallo, Lania.“
Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte. „Patrick?!“
Kurz blieb es still auf der anderen Seite der Leitung, dann antwortete er: „Ja, ich bin es. Dein Bruder.“
„Patrick, aber bist du nicht…?“
„Ich bin frei“, unterbrach er sie beschwingt. Sie schluckte. „Wie meinst du das?“
„Ich hatte heute Ausgang und hab vorhin meine Begleiter abgehängt. Ein Sprung durchs Toilettenfenster, ein Anruf an einen alten Bekannten, der sich mit Fußfesseln auskennt und eine Mitfahrgelegenheit… Und schon bin ich auf dem Weg zu dir!“
„Patrick, verarschst du mich?“
„Nein, Schwesterherz. Ich hab mir vorgenommen, dich zu besuchen und dir ein ganz besonderes Geschenk vorbeizubringen. Dafür muss ich nur erst noch nach Lamberton…“
Sie starrte förmlich ein Loch in den Karton vor sich, unfähig, etwas zu erwidern.
„Ich muss gleich Schluss machen“, meinte Patrick. „Ich wollte nur wissen, ob ich dich immer noch in dem Hotel finde, aus dem du mir zuletzt geschrieben hast – das in Marshall Meadows.“ „Ja…“, rutschte es ihr perplex heraus. „Aber ich will nicht, dass du mich besuchst, wenn du ausgebrochen bist.“
„Die sind doch selbst schuld, wenn sie nicht richtig auf mich aufpassen“, sagte er leicht gereizt.
„Was willst du in Lamberton?“, fragte sie, während sie sich mit ihrer schwitzigen Hand am Handy festklammerte.
„Du hast unsere Mutter immer gefürchtet und gehasst. Dafür, dass sie unseren Vater hat gewähren lassen. Um ihn habe ich mich schon gekümmert – und sie hat es vertuscht. Aber sie hat nichts getan, um uns vor ihm zu beschützen. Jetzt sorge ich dafür, dass du keine Angst mehr haben musst – und schenke dir etwas, womit du dich selbst verteidigen kannst.“
„Patrick, unsere Mutter ist…“ „Ich muss auflegen“, schnitt er ihr das Wort ab. „Bleib, wo du bist.“
„Ich brauche weder deine Geschenke noch deinen Schutz!“, herrschte sie ihn an. Aber als Antwort erhielt sie nur den Signalton, dass ihr Bruder aufgelegt hatte.
Ihr starrer Blick löste sich und sie beobachtete für einen Moment das Schneetreiben vor dem Fenster. Vielleicht kommt er gar nicht weit, flüsterte eine kleine, naive Hoffnungsstimme in ihrem Kopf. Aber diese Stimme kannte Patrick nicht – oder wollte ihn vielmehr nicht kennen.
Fieberhaft begann sie zu überlegen, was sie tun sollte. Trotz allem widerstrebte es Lania, ihren Bruder zu verraten – verfolgen würde man würde ihn ja ohnehin. Und wenn sie seine Spur verlieren? Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie musste etwas unternehmen – sie wusste nur noch nicht, was.
Immerhin wird er in unserem Elternhaus niemanden mehr finden, dachte sie.

 

- NACHTS: FAMILIE PINECONE
 

Sie hatten sich die warmen Decken aus dem Auto geholt und den unbeschädigten Kamin mit Holz angefeuert, das sie trockengelagert in einem Schuppen gefunden hatten. Sie lagen im kleinen Wohnzimmer des Anwesens, eng nebeneinander auf ein paar Matratzen, die sie aus den Gästezimmern geholt hatten. Trotzdem war es kalt und Mary bekam kein Auge zu, während Alfie zwischen ihr und Rose fest eingeschlafen war.
Das letzte Mal, als sie nach draußen gesehen hatte, war es noch stärker am Schneien gewesen. Der Schnee könnte bis morgen so hoch liegen, dass sie komplett eingeschneit wurden. Sie hatten ihre Sandwiches gegessen und in der Vorratskammer nach etwas zu Essen gesucht, aber bis auf ein paar Dosen Ravioli war alles verdorben gewesen.
Fred wollte morgen mit seiner Tochter zum nächsten bewohnten Haus laufen und dort um Hilfe bitten. Mary starrte an die Decke. Das Ganze war ein Alptraum. Zuhause wartete der geschmückte Tannenbaum auf sie, ein vorbereiteter Truthahn – und vor allem eine warme Wohnung und Freunde, die sie besuchen konnten.
Stattdessen saßen sie nun im verlassenen Haus ihrer Großtante Jane fest, das selbst mit einer funktionierenden Heizung nichts Wohnliches an sich gehabt hätte. Mary konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jane ein glückliches Familienleben geführt hatte. Abgesehen von dem Foto im Schlafzimmer wies nichts mehr daraufhin, dass hier einmal mehr Leute gewohnt hatten. Als seien sie allesamt mit Sack und Pack davon und hätten Jane zurückgelassen… Sicherlich steckte mehr dahinter – aber Mary war nicht so von Geheimnissen besessen wie Alfie und auch nicht mit seiner lebhaften Fantasie gesegnet, um sich etwas passendes auszumalen.
Plötzlich klopfte es neben dem knisternden Kamin in der Wand. Mary erschrak. Auf ihre Matratze gestützt, richtete sie sich auf und starrte in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatte. Es klopfte wieder – erst genau an in derselben Stelle, dann in Marys Brust.
Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. „Hallo…?“, wisperte sie. „Ist da jemand?“ Einerseits kam sie sich lächerlich vor, andererseits war sie sich ganz sicher, dass sie ein Klopfen gehört hatte. Jetzt waren es schnelle Schritte von jemandem, der rannte – direkt hinter der Wand. Marys Herz machte einen Satz. „Mama!“, rief sie dann und sprang auf. „Da ist jemand!“
Alle waren geweckt, aber wenigstens Alfie schien den Ernst von Marys Lage nicht zu verstehen. „Wer? Der Weihnachtsmann?“ Mary schüttelte den Kopf und begann zu flüstern, als die Schritte schlagartig verstummten. „Ich weiß es nicht. Hat das keiner von euch gehört?“ „Ich schon“, meinte Fred und richtete sich auf.
Rose blieb unbeeindruckt. „Sicher ein Marder“, vermutete sie. „Hinter der Wand ist bestimmt ein Zwischenraum.“
„Das war kein Marder – wenn überhaupt schon mehrere!“
Plötzlich knarrten über ihnen sämtliche Balken zugleich. Marys Ohren klingelten, als dazu ein schrilles Quietschen einsetzte. Die Scheiben in den Fensterrahmen begannen zu vibrieren und zu klirren.
Rose schnappte sich Alfie, hielt in fest und kauerte sich über ihn auf den Boden. „Runter, Mary, Fred! Das könnte ein Erdbeben sein!“
Es war, als schälte sich das Haus aus seiner heruntergekommenen Fassade, um den Wolf im Greisenfell zu entfesseln. Sämtliches Gebälk grollte und rumpelte, laut und bedrohlich. Alfie schrie. „Mama, ich hab Angst! Vielleicht ist das Herr Pastell!“
„Sei nicht albern, Alfie“, rief Rose, aber i
hr Gesicht war kreidebleich.
Mary befand sich in verkrampfter Hocke auf dem Boden und zitterte- aber nicht vor Kälte, sondern vor Furcht. „Ich will weg hier!“ Ihr Vater schien ihr gerade zustimmen zu wollen, da polterte es mächtig und die Wand rund um den Kamin stürzte um.
„Achtung, Kinder!!!“

Kapitel V: FLUCH UND SEGEN

 

- 23.12., NACHTS: TJORVIK

 

„Anushka – Warte!!“ Tjorviks Stimme überschlug sich fast, während er durch den Schnee stolperte.

Die Weihnachtselfin blieb stehen ohne sich umzudrehen. „Es gibt nichts mehr zu reden, Tjorvik.“ Sie war schon fast an ihrer Wohnung angekommen. „Du hast dich entschieden – und ich mich auch.“

„Es tut mir leid, Anushka. Wirklich alles.“ Verzweifelt rannte er die letzten Schritte auf sie zu. Er musste seine Hände auf die Knie stützen, um nicht umzufallen. „Ich bin ein Idiot. Ich rede davon, dass Weihnachten den Bach runtergeht und niemand mehr unserer Geschenke zu schätzen weiß… dabei bin ich selbst nicht besser. Ich habe dich in letzter Zeit ständig vernachlässigt.“ „Da hast du Recht“, die Elfin drehte sich nach ihm um. „Und du hast nicht bemerkt, wie sehr mich das verletzt hat.“

Tjorvik stand zitternd vor ihr. „Verzeih mir, Anushka. Du bist meine beste Freundin, die mir trotz meiner Schwafelei und Meckerei immer zuhört und mir ehrlich sagt, was sie denkt. Und du warst für mich da, obwohl ich jeden wegstoßen wollte.“

„Ich bin gut im Verzeihen“, meinte sie, während ihr Gesichtsausdruck ein wenig weicher wurde. „Aber es wäre schön, wenn ich das bei dir in Zukunft nicht mehr so oft zu tun bräuchte, Tjorvik.“ „Versprochen!“, platzte es aus ihm heraus. Er war unglaublich erleichtert und gleichzeitig schrecklich aufgekratzt. „Ich werde mich für uns anstrengen, Anushka. Es ist ein denkbar ungelegener Zeitpunkt dafür, aber… ich brauche unbedingt deine Hilfe.“

Die Weihnachtselfin stöhnte und verdrehte die Augen, aber sie lächelte ein wenig: „Solange du mich nicht zu deiner Einbruchskomplizin machst…“ „Nun…“ Er hörte sie nach Luft schnappen. „In gewisser Weise schon.“ „Du bist unmöglich, Tjorvik“, blaffte sie. Ihre Stimmung drohte von Versöhnlichkeit zur Weißglut zu kippen. „Unmöglich und dreist. Wie kann man nur so…“

„Anushka, ich fleh dich an, hör mir zu!“ Er drückte ihr den grausamen Wunschzettel des Herrn Pastell in die Hand. „Es ist ein absoluter Notfall. Bitte lies‘ nur das!“

Wenig überzeugt faltete sie den Zettel auf. Ihre Augen glitten über das Papier, erst langsam, dann immer schneller und konzentrierter – ähnlich wie vorhin bei ihm. Als sie zu Ende gelesen hatte, zitterte ihr Hand, in der sie den Zettel hielt.

„Wir müssen etwas unternehmen“, sagte sie einfach.

„Das sehe ich auch so“, erwiderte Tjorvik und war zum zweiten Mal an diesem Abend erleichtert. „Also hilfst du mir?“

Nach einem Moment nickte sie. „Aber wir müssen Santa davon erzählen.“

Tjorvik hob an, um ihr zu widersprechen. Doch dann hielt er inne, dachte darüber nach und sah ein, dass ihr Einwand vernünftig und notwendig war, auch wenn dies bedeutete, dass er seinen Einbruch zugeben musste.

„Wird er mich dafür einsperren?“, fragte er zaghaft.

„Darüber hättest du vorher nachdenken sollen“, meinte Anushka und rückte ihre rote Mütze über den spitzen Ohren zurecht, wie sie es immer tat, wenn es ernst wurde. „Du wärst jedenfalls der erste Weihnachtswichtel hinter schwedischen Gardinen.“

„Auch eine Art, auf sich aufmerksam zu machen“, sagte er trocken. Bei dem Gedanken, sich vor Santa die Blöße geben zu müssen, wurde ihm schlecht. Er straffte die Schultern: „Na komm. Wir müssen uns beeilen.“

Sie nickte. „Santa wird bei den Rentieren sein.“

 

„Und den hast du also bei mir im Büro gefunden, ja?“ Santa durchbohrte Tjorvik mit seinen eisblauen Augen und fuhr sich voller Argwohn durch den langen Bart, der nach Zuckerwatte roch. „Mich interessiert gerade am meisten, wie du da hineingekommen bist.“

„Durchs Fenster“, erwiderte der Weihnachtswichtel stumpf. „Du brauchst wohl ein Neues.“ Zu seiner Verwunderung blieb der Wutanfall von Santa aus. Sogar sein Gesicht blieb relativ unbewegt. Er nickte lediglich. „Mir scheint, die Kündigung hat deinem Geisteszustand nicht gutgetan, Tjorvik.“

„Darüber kannst du dich später mit ihm unterhalten“, mischte sich Anushka überraschend ein. „Jetzt müssen wir uns etwas einfallen lassen.“ Wie zur Bestätigung stupste Santa eines der Rentiere in den Rücken, die er gerade am Anschirren gewesen war, als die Elfin und Wichtel ihm diesen unverhofften Besuch bescherten.

„Nun, soweit ich weiß, befindet sich dieser Herr Pastell sicher verwahrt in einer Forensik“, meinte Santa und zupfte sich die Rentierhaare vom gespreizten Mantel über seinem Bauch. „Und seine Mutter ist kürzlich verstorben. Weißt du, Tjorvik, ich bin nicht so untätig, wie du immer denkst. Ich habe den Wunschzettel – oder wie man dieses Pamphlet auch nennen will – bereits überprüft. Er lag auf dem Band, weil ich ihn verwahren wollte, bis ich sichergehen konnte, dass er als ungefährlich einzustufen ist.“

„Herr Pastell klingt in seinem Brief aber alles andere als ungefährlich“, meinte Anushka und starrte Santa mit großen Augen an: „Er schreibt davon, seiner Schwester eine Messersammlung zu schenken – eingebettet in ihrer beider Mutter!“

„Ich bin mir sicher, das hat er im Affekt geschrieben. Ein schlimmer Tag im Knast, da kann einem schonmal so etwas Widerliches durch den Sinn wandern“, erwiderte Santa unbeeindruckt und bedachte Tjorvik mit einem Blick, als sollte er den Knast bald selbst erleben.

Tjorvik musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um hartnäckig zu bleiben. „Das ist fahrlässig, Santa. Selbst, wenn es Herrn Pastell nicht gelingen sollte, bei seinem Ausgang zu entkommen, könnte er sein Ziel ändern und es auf jemanden aus der Forensik abgesehen haben. Wir müssen die Menschen warnen!“

„Und unnötig Panik schüren, so kurz vor Weihnachten?“ Santa schüttelte den Kopf und machte ein Geräusch, das einem grimmigen „Ho ho ho“ recht nahekam. Anushka bedachte ihn mit einem Blick, der sogar Tjorvik einen Schrecken einjagte. „Du musst nochmal nachschauen Santa. Jetzt. Wo sich Herr Pastell befindet, ob er von seinem Ausgang zurückgekehrt ist und ob es Hinweise darauf gibt, was er vorhat.“

Santa seufzte: „Ach, Anushka. Mich rührt ja eure Sorge, aber wisst ihr eigentlich, wie viele solcher Wunschzettel jedes Jahr bei mir auf dem Schreibtisch landen? Ich gebe zu, dieser war recht explizit – Aber trotzdem nichts als heiße Luft.“

„Wie kannst du dir anmaßen, das zu wissen?“, fragte Tjorvik fassungslos. „Hast du jemals überprüft, wie oft du mit deinen Schätzungen falsch lagst und du Leid hättest verhindern können?“

„Schluss jetzt“, grollte Santa unter protestierendem Schnauben der Rentiere. „Ihr nervt mich. Bevor ihr mich weiter aufhaltet, sehe ich nach.“ Den Kopf schüttelnd schlurfte er los und fuhr fort, ihnen den Rücken schon halb zugekehrt: „Wegen euch gerate ich in noch mehr Stress. Aber wenn es euch beruhigt und ihr mich danach in Ruhe lasst… - Wartet hier.“

 

Für Tjorviks Empfinden dauerte es viel zu lange, bis Santa zurückkam. Aber noch bevor er etwas zu ihnen sagen konnte, war klar, dass etwas geschehen war, womit Santa nicht gerechnet hatte – denn anstatt gemächlich auf sie zuzugehen und sich dabei ins Fäustchen zu lachen, ihnen gleich eine Standpauke halten zu können, kam Santa im Laufschritt in den Rentierstall gerannt.

„Wir fahren sofort los“, sagte er nur und läutete mit einer der hundert Glöckchen an seinem Gürtel – jede für einen Schlitten –, um seine besten Rentiere zu rufen. „Ihr hattet Recht“, rief Santa dem schockgefrorenen Weihnachtswichtel und der ungläubigen Weihnachtselfin zu, während er sie zum Schlitten winkte. „Herr Pastell ist ausgebrochen. Jemand von euch muss zu seiner Schwester nach Marshall Meadows, der andere kommt mit mir nach Lamberton ins Elternhaus der beiden. Dort befindet sich glücklicherweise auch einer unserer Boxenstopps – ich habe die Wichtel in Bereitschaft dort bereits alarmiert, aber offenbar übernachtet eine ahnungslose Familie in dem Haus.“

„Oh nein“, hauchte Anushka. „Das kann man wohl laut sagen“, knurrte Santa. „Kein Wunder, dass ich Pastellfarben nicht ausstehen kann. Auf jetzt, ihr beiden!“

Als sie zum Schlitten stürmten, merkte Tjorvik, wie Anushka kurz seine Hand nahm. Er sah ihr ins Gesicht und sie drückte sie leicht. Er drückte sie leicht zurück und versuchte, ihr ein zuversichtliches Lächeln zu schenken.

Heilige Weihnachtskugel, dachte er bei sich. Hoffentlich geht das alles gut aus.

 

- 24.12., FRÜHMORGENS: HERR PASTELL

 

Der Weihnachtsmann hatte ihm seinen ersten Wunsch erfüllt – oder wer immer dafür zuständig sein mochte, sich des Weihnachtswetters anzunehmen. Es schneite.

Aber seitdem man ihn an der letzten geräumten Straße abgesetzt hatte und Herr Pastell die letzten Kilometer zu seinem Elternhaus zu Fuß entlangstapfte, in finsterster Nacht und mit Nichts als einer Taschenlampe bewaffnet, begann er sich zu fragen, ob er Schnee immer noch so schön fand wie in seinen Kindheits- und Jugendtagen.

Er hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen und sein Freund, der ihm noch einen Gefallen geschuldet und sich um die Fußfessel gekümmert hatte, hatte lediglich einen schwarzen Mantel übriggehabt, der Herr Pastells hagerer Gestalt noch einigermaßen schmeichelte.

Also zwang seine Eitelkeit ihn dazu, zu frieren. Und je länger er so vor sich hinlief, desto deutlicher nahm er seine von der Kälte geschärften Gedanken wahr, die etwas in ihm auslösten, womit er in seinem Leben nur äußerst selten zu kämpfen gehabt hatte: Zweifel.

Er wusste, dass man anderen etwas schenkte, um ihnen eine Freude zu machen. Daher wunderte es ihn, weshalb seine Schwester so gar nicht freudig geklungen hatte, als er ihr am Telefon von seiner Idee erzählt hatte.

Vermutlich war sie einfach überrumpelt worden. Aber wenn sie sich nun doch nicht über das Geschenk freuen würde, das er ihr machen wollte? – Er ärgerte sich, dass er Lania nicht besser zugehört hatte. Um zu verstehen, was andere empfanden, musste er sich konzentrieren und durfte sich dabei nicht von seinen eigenen Plänen ablenken lassen. Das war das Schwerste und zugleich Hilfreichste, was er sich in seiner Zeit in der Forensischen angeeignet hatte. Aber wenn er ganz ehrlich zu sich war, beherrschte es noch nicht wirklich gut.

Seine Gedanken schweiften zu seiner Mutter. Sie würde inzwischen alt sein, viel älter, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Jane war eine wankelmütige Frau, die sich von verrückten und unrealistischen Träumen verführen ließ – Träume, die ihr zum größten Teil von Pavlov Pastell eingeflüstert worden waren, dem Vater von Patrick. Janes Sohn hatte schon ganz früh versucht, sie zur Vernunft zu bringen und ihr Pavlovs wahres Gesicht zu zeigen. Doch sie hatte sich weiter von ihm blenden lassen.

Solange, bis ihr Sohn die Kunst für sich entdeckte. Oder, besser gesagt, seine Interpretation von Kunst. Und heute wollte er seit langem ein neues Werk erschaffen – aber nicht für sich. Es sollte kein belangloses Geschenk, keine leere Geste sondern etwas von Bedeutung sein, das er seiner Schwester vermachte.

Herr Pastell hatte sich seit mehreren Wochen akribisch auf diesen Tag vorbereitet. Aber er vermisste die prickelnde Vorfreude, die spritzige Euphorie beim Gedanken daran, seine Vision in der Realität zu manifestieren.

„Ich bin Virtuose“, versuchte er seine Zweifel mit seiner eigenen Stimme laut zu vertreiben. „Es wäre eine Schande, würde ich mein Talent niemals mehr zur Geltung kommen lassen – besonders dann nicht, wenn es um die Verbesserung der Welt geht.“

Er zog den Mantel enger um sich, als das alte Herrenhaus in Sicht kam. Es beugte sich schwer unter der Last des Schnees auf seinen maroden Dächern. Eigentlich hatte sich Jane bemüht, das Haus in Schuss zu halten. Zumindest das – wo sie schon ihre Kinder Stück für Stück verloren hatte. Herr Pastell biss die Zähne zusammen.

Mit einer Möglichkeit, die seine Geschenkidee vereiteln könnte, hatte er sich gar nicht befasst…

 

 

- 24.12., FRÜHMORGENS: FAMILIE PINECONE

 

 

 

„Er ist gleich da. Haltet euch bereit!“

„Alles klar!“, brüllte Mary, obwohl sie eigentlich nicht mal einen Hauch davon wusste, wie ihr geschah, nachdem die kleinen Männchen und etwas größeren Elfen hinter dem Kamin aus der Wand gestürmt waren.

Nun standen sie alle – ihre Eltern, Alfie, die Wichtel, Elfen und sie – mit Schürhaken, Stuhlbeinen und was sie sonst noch hatten finden können, bewaffnet in der Eingangshalle des Anwesens. Die Elfen waren zur Decke geklettert und hatten dort mehrere Kronleuchter entzündet, die mit Kerzen bestückt waren. Sie schienen sich, genauso wie die Wichtel, im Haus bestens auszukennen und hatten etwas von ihren Aufgaben als „Boxenstopper“-Dezernat der Weihnachtswerkstätten gefaselt.

Marys Eltern hatten sich ein Stück vor ihren Kindern positioniert, aber schienen ähnlich ratlos und entgeistert wie sie. Allerdings hatten sie die Warnung der kleinen Wesen ernstgenommen, nachdem sie minutenlang vor- und um sie herumgesprungen, wild mit den Händen und Ohren gewedelt hatten und sie nahezu hysterisch vor einem entlaufenen Psychopathen warnten, der jeden Moment Janes Haus betreten könnte, auf der Suche nach einem neuen Opfer für seine tödlichen Kunstwerke.

Sobald der Name Herr Pastell fiel, fand selbst Alfie das Ganze nicht mehr lustig und versteckte sich unverhohlen offensichtlich hinter seiner großen Schwester. Mary ließ ihn gewähren, während sie voller Anspannung die eiserne Gardinenstange hob, die sie im Wohnzimmer abgerissen hatte.

Quietschend und ächzend schwangen die Flügel der Doppeltür in der Eingangshalle auf und flogen mit einem Stoß zurück, als eine schneebepackte Windböe sie aufdrückte.

Eine dunkle, große Gestalt trat von Draußen herein.

Alfie schrie. Rose brüllte. Fred machte einen Schritt auf den Eindringling zu und schüttelte ihm, neben einem Stuhlbein in der einen Hand, seine Faust entgegen: „Keinen Schritt weiter, du Mistkerl!“

Mary war wie erstarrt. Eine samtene Stimme ertönte. „Offenbar hat man mich schon erwartet“, sagte der Mann. Obwohl er vor Kälte zitterte, gelang es ihm, wie eine lauernde Raubkatze zu klingen. „Aber ihr seid nicht die, die ich besuchen wollte. Wo ist meine Mutter? Das hier ist ihr Zuhause. Ihr Name ist Jane Pastell.“

„Ich wusste schon immer, dass wir einen Mörder in der Familie haben!“, kreischte Alfie schrill. Mary knuffte ihn blindlings in den Bauch.

„Ich bin kein Mörder, Kleiner. Allenfalls Künstler.“ Einen Moment später murmelte er: „Aber mir scheint, diese Zeiten sind ebenfalls vorbei.“ Er trat über die Schwelle. „Jane ist tot, nicht wahr?“

„Ja“, antwortete Rose schlicht. „Schade“, sagte Herr Pastell und machte sich daran, die Tür wieder zu schließen. „Es ist kalt, findet ihr nicht?“

„Wagen Sie es ja nicht…“, setzte Fred an.

„Aber ihr habt sie doch beerbt, nehme ich an“, entgegnete Herr Pastell ungerührt. „Das Haus gehört euch, vermute ich. Ihr solltet es nicht noch weiter verkommen lassen.“

„Da liegen Sie richtig. Und deshalb werden Sie dieses Grundstück wieder umgehend verlassen“, erklärte Rose. Trotz ihrer eigenen Furcht empfand Mary in diesem Moment unheimlichen Stolz für die Unerschrockenheit ihrer Mutter. Sie wusste, dass sie rigoros sein konnte. Aber so entschlossen, ihre Liebsten zu verteidigen hatte sie sie noch nie erlebt.

„Ich bitte euch“, säuselte Herr Pastell. „Wie der Kleine schon sagte; wir sind doch Familie! Ein unerwartetes Aufeinandertreffen, gebe ich zu. Aber draußen tobt ein Schneesturm. Da wollt ihr mich doch sicherlich nicht wieder hinausschicken.“

„Der Schneesturm hat Sie auch nicht davon abgehalten, herzukommen“, knurrte Marys Vater. „Und Sie sind nicht mit dem Ziel hergekommen, uns zu besuchen – also können Sie auch wieder gehen.“

Herr Pastell schüttelte erst den Kopf und begann dann mit seinem ganzen Körper hin- und herzuwiegen, als würde er mit einer bizarren Tanzaufführung beginnen. „Herrje. Gastfreundlich seid ihr nicht. – Obwohl, diesen seltsamen Winzlingen scheint ihr ja Obdach gewährt zu haben…“ Sein Blick wanderte über die Elfinnen und Wichtel. „Faszinierend…“, murmelte er, während nahezu allen, die er begutachtete, das Blut aus dem Gesicht wich.

„Wisst ihr, dieses Haus behagt mir ohnehin nicht. Aber bevor ich wieder gehe, brauche ich noch etwas von hier – ein Accessoire, könnte man sagen. Ich musste es zurücklassen, als man mich weggeschlossen hat, aber es gehört rechtmäßig mir. Wenn ihr es mir bringt, seid ihr mich wieder los… oder ich hole es mir.“

Rose verzog das Gesicht ohne ihre angriffslustige Haltung abzulegen. „Und was soll das sein?“, erkundigte sie sich misstrauisch.

„Eine Messersammlung“, antwortete er, als sei nichts Besonderes dabei. „Ein Koffer mit Wurf- und Schneidemessern, um genau zu sein.“

Ein kollektives, schockartiges Einatmen sprang durch den Raum, von Alfie zu Mary, von Fred zu Rose, von Wichtel zu Elfin.

„Ihr scheint über den Teil meiner Geschichte, den inzwischen jeder zu kennen scheint, im Bilde zu sein. Aber ich werde diesen Koffer nicht für das gebrauchen, an was ihr jetzt denkt. Da ich zu spät komme, um meine Schwester und mich an meiner Mutter zu rächen, werde ich den Koffer verschenken.“

„Und wer darf sich darüber freuen?“, fragte Rose säuerlich. Hinter ihnen im Haus polterte und krachte es. Gleich darauf waren hastige Schleifgeräusche und Glöckchenklingeln zu hören.

„Niemand mehr!“, dröhnte es mit tiefer Stimme hinter den Hausverteidigern.

 

Mary konnte gerade noch rechtzeitig zurückweichen, als vier riesige Rentiere an ihr vorbei durch die Flurgalerie preschten, die einen Schlitten hinter sich herzogen, auf dem ein bulliger Mann mit Rauschebart und ein kleiner Wichtel saßen. Letzterer hatte eine Menge Ruß im Gesicht und steckte in einem merkwürdigen Kostüm, das wohl an einen (zerrupften) Tannenbaum angelehnt sein sollte.

„Der Weihnachtsmann!“, rief Alfie und kam neben den Schlitten gerannt, ganz außer sich. „Du musst uns helfen, Santa!“

„Aber sicher, Alfie. Sonst wäre ich nicht schon hier“, Santa räusperte sich und entstieg dem Schlitten.

Herr Pastell hatte die Szene irritiert, jedoch nicht besorgt beobachtet. „Wie es aussieht, werde ich heute Zeuge davon, das nichts unmöglich ist und Fantasie tatsächlich Wirklichkeit werden kann“, meinte er, an niemand bestimmten gerichtet.

„Ich bin Santa“, sagte der Weihnachtsmann ohne Regung im Gesicht. „Und ich bin so real, wie es deine Faszination für Gewalt offenbar noch ist, Patrick. Das enttäuscht mich.“

„Dich wird es enttäuschen, dass ich mir die Meinung des Weihnachtsmanns noch nie zu Herzen genommen habe. Ich habe lediglich einen Wunschzettel verfasst, weil mir die Aufgabe von einem Therapeuten gestellt wurde.“ „Das hat nichts mit Therapie zu tun!“, platzte der als Tannenbaum verkleidete Wichtel dazwischen, sprang aus dem Schlitten und baute sich vor Herrn Pastell auf, obwohl der Mann dreimal so groß war wie er. „Zumindest nichts mit erfolgreicher Therapie.“

„Tja“, Herr Pastell zuckte die Schultern, „So würde ich das nicht sehen. Immerhin habe ich niemanden umgebracht, oder? Und dass, obwohl mir die Malerei und das künstlerische Schaffen in den Fingern prickelt.“

Er packte den Wichtel am Kragen und hob ihn mühelos in die Höhe und ließ ihn vor seinem Gesicht herumzappeln. Der Ausdruck in Herrn Pastells Augen schien sich für einen Augenblick zu verändern – starrer und kühler zu werden. Mary fand, dass er zum Fürchten war – war sie vorher lediglich erstarrt, wollte sie nun im Boden versinken, damit er sie bloß nicht mit diesem Blick bedachte. Aber gerade bewirkte ihre Angst, dass sie nur gebannt zusehen konnte.

 

- TJORVIK

„Ich bin ein Virtuose, Wicht“, sagte Herr Pastell zu Tjorvik. „Es wäre eine Schande, der Welt mein Talent vorzuenthalten.“

Tjorvik bekam endlich einen Arm frei. Dadurch baumelt er zwar schief vor dem Gesicht seines Ergreifers herum, aber er konnte mit der Hand ausholen. Er verpasste dem Psychopathen eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. „Patrick Pastell!“, hörte er sich rufen, ohne wirklich zu wissen, was er da eigentlich sagte oder was er sich bei dieser leichtsinnigen Aktion gedacht hatte: „Im Namen des Weihnachtsrettungskomitees verbiete ich dir, diese Familie weiter in Schrecken zu versetzen!“

Der Mann lachte schallend auf. „Niedlich.“ Er ließ Tjorvik so abrupt fallen, dass er fast mit der Nase zuerst auf den Boden knallte. „… aber meinetwegen.“ Tjorvik berappelte sich schnell. „Dann geh!“, herrschte er Herrn Pastell an.

„Erst der Messerkoffer. Ich will ihn meiner Schwester schenken. Dagegen kann das Weihnachtsrettungskomitee doch wohl nichts einzuwenden haben, oder?“

„Ich habe etwas dagegen“, warf Santa ein und rückte so dicht an Herrn Pastell heran, als stünden sie kurz vor dem Stare Down eines Boxkampfes. Währenddessen legte Santa Tjorvik eine Hand auf die Schulter und schob ihn sanft, aber bestimmt ein Stück hinter sich zurück. „Herr Pastell, Sie sollten nicht hier sein, sondern in der Forensik. Und ich werde persönlich dafür sorgen, dass Sie dort wieder hinkommen.“

Bevor Herr Pastell etwas erwidern konnte, schwang die Eingangstür ein weiteres Mal auf.

„Patrick!“ Lania Pastell stürmte herein. Tjorvik konnte zwar nicht wissen, wer es war, aber die Schwester und Bruder sahen sich recht ähnlich und Lanias Gesichtsausdruck sprach Bände, sobald ihr Blick Herrn Pastell erfasste. Zudem befand sie sich in Begleitung von Anushka. Die Weihnachtselfin hatte sie also tatsächlich noch rechtzeitig ausfindig gemacht.

Herr Pastell wandte sich um, scheinbar völlig unbeeindruckt von der Hünengestalt Santas, dem er dafür den Rücken zudrehen musste. „Lania…“

„Bist du wahnsinnig geworden?“ Sie winkte ab. „Ach, ich vergaß – das bist du ja längst. Wie kommst du darauf, dass du mir eine Freude machen könntest, indem du unsere Mutter ermordest?!!“ Sie schmetterte es ihm derart hart entgegen, dass er zunächst nichts zu erwidern vermochte – wenigstens wirkte es so, als sei er tatsächlich baff von ihrem Erscheinen, oder hätte sich zumindest mit ihrer Reaktion auf ihn verkalkuliert.

Lania starrte ihn fassungslos an. „Du wolltest dir Mühe geben…“

„Ich bin doch dabei“, behauptete er und geriet ins Straucheln. „Ich wollte dir ein persönliches Geschenk machen und dir gleichzeitig zeigen, dass ich dich beschütze.“ „Nein“, entgegnete Lania kalt. „Du wolltest einfach wieder malen und es hinter diesen Motiven verstecken. Ich kann mich selber schützen – das musste ich lernen, als du weg warst. Mit diesem „Geschenk“ hättest du mir keine Freude bereitet, sondern bewirkt, dass ich mir ein Leben lang Vorwürfe gemacht hätte.“

„Wieso?! – Sie hat dich oft genug im Schrank eingesperrt, als sie es noch konnte!“

„Ja… aber nur, wenn Papa ausgerastet ist! Das hast du nie verstanden. Ja, ich hatte Angst. Aber sie hat in diesen Momenten das getan, was ihr möglich war, um mich zu schützen.“ „Das redest du dir ein. Aber wer dich wirklich beschützt hat, das war ich.“

„Nein, Patrick. Indem du Papa unter die Erde gebracht hast und schließlich noch ein paar andere, hast du dafür gesorgt, dass mir nicht mehr viel von einem Bruder geblieben ist, der für mich da sein könnte.“

Alle Anwesenden starrten regungslos auf Herrn Pastell, als erwarteten sie, dass er jeden Moment eine Granate unter seinem schwarzen Mantel hervorziehen und sie mit irrem Lachen durch die Gegend werfen könnte. Das wäre ihm wohl durchaus zuzutrauen gewesen. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen geschah ein waschechtes Weihnachtswunder.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit legte Herr Pastell sein Schweigen ab. „Das tut mir leid“, sagte er. Es klang ehrlich – aber Tjorvik war sich nicht sicher, ob Herr Pastell diesen Klang einfach nur gut einstudiert hatte. Herr Pastell schien nachzudenken. Und fuhr er schließlich fort: „Wie du denkst und empfindest, verstehe ich nicht Lania.“ Er kräuselte die Nase, als sei es ihm unangenehm, zuzugeben, was er im Folgenden sagte. „Aber ich glaube dir, dass es so ist. Und wenn es so ist, habe ich noch nicht genug gelernt“, meinte er. Er senkte ein wenig den Kopf. „Ich dachte, ich sei bereit für das Leben draußen. Aber diese Annahme scheint mir falsch, wenn ich dich so ansehe, Lania.“

„Mich… und diese Familie, die du bedroht hast“, fügte Lania mit einem Seitenblick auf Familie Pinecone hinzu. Als sie sich wieder ihrem Bruder zuwandte, wurde ihre Stimme ein wenig milder. Sie holte Luft. „Patrick. Ich weiß, du kannst es schaffen. Eines Tages wird es dir gelingen, deine Impulse, die Schlimmes hervorbringen, unter Kontrolle zu halten. Aber dieser Tag war nicht heute. Du musst wieder zurück. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es dort ist – aber mir fällt kein anderer Ort ein, an dem man dir sonst helfen könnte, dass du keine Gefahr mehr für andere bist. Verstehst du das?“

Nach einem Augenblick nickte er langsam.

Alle schienen erleichtert auszuatmen, einschließlich Santa.

„Ich begleite dich zurück“, sagte Lania.

„Und ich werde euren Chauffeur geben“, brummte Santa. „Ausnahmsweise. Danach komme ich zurück und bringe euch nach Hause.“ Er nickte Familie Pinecone zu.

„Wirklich?“ Der Junge Alfie sprang mit einem Mal aufgeregt auf und ab wie ein Flummi und die Anspannung war endgültig durchbrochen.

„Wirklich“, bestätigte der Weihnachtsmann mit dem Anflug eines Grinsens. „Ich sorge dafür, dass ihr nächste Nacht wieder ruhig schlafen könnt.“ Dann machte er eine Handbewegung in Richtung von Lania und Herrn Pastell. „Aufsitzen, bitte. Die Bescherungen kann ich deshalb nicht sausen lassen.“

 

Kaum war Herr Pastell in den Schlitten gestiegen, flüchtete sich Anushka in Tjorviks Arme. Er umschlang sie fest. „Du warst so mutig“, flüsterte sie.

Santa drehte sich zu den beiden um, als Lania sich ihrem Bruder gegenübergesetzt hatte. Die Rentiere scharrten bereits nervös mit den Hufen und schüttelten ihre Köpfe in Richtung der Eingangspforte, die nach wie vor offenstand.

„Tjorvik“, hob Santa an. Sein väterlicher Tonfall irritierte Tjorvik. „Ich hätte nicht gedacht, dass so viel Mumm hinter deinen ganzen Worten steckt.“ Santa räusperte sich. „Und ich weiß zwar nichts von einem Weihnachtsrettungskomitee, aber vielleicht können wir darüber sprechen, wenn wir zurück sind und Weihnachten hinter uns gebracht haben. Vielleicht hab ich ja sogar ein neue Aufgabe für dich – wenn du willst, und das mit deinen Komiteeplänen vereinbar ist.“ Tjorviks Augen wurden groß. „Die heutige Nacht hat mir gezeigt, dass ich mich nicht nur auf meine Intuition verlassen sollte, wenn es um die Bearbeitung von kritischen Wunschzetteln geht. Du könntest mich dabei unterstützen, die Absender zu überprüfen – ein Wunschagent, sozusagen. Das wird mit Sicherheit nicht ungefährlich, aber du hättest wieder mehr Bezug zu deiner Arbeit. Wie klingt das für dich?“

Obwohl er von dem Gedanken sofort begeistert war, zierte sich Tjorvik vor Santa noch ein wenig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du mich dazu beauftragst wie ein freier Mitarbeiter, könnte ich mir das vorstellen… und das Weihnachtsrettungskomitee kümmert sich unabhängig davon darum, dass die weihnachtliche Botschaft nicht in Vergessenheit gerät und mehr Aufmerksamkeit erhält... und wir gründen eine Gewerkschaft der Weihnachtswichtel und -elfen.“

Santa räusperte sich, aber dann nickte er: „Abgemacht. – Und jetzt kümmern wir uns darum, dass dieses Weihnachten vernünftig über die Bühne geht nach diesen… kleinen Turbulenzen.“ Er schwang sich auf den Schlitten, nahm die Zügel und hob zum Abschied die Hand: „Bis gleich.“

Lania hob ebenfalls die Hand: „Danke für eure Hilfe.“ Herr Pastell neben ihr nickte kaum merklich.

Tjorvik spürte wie Anushka ihn leicht drückte, als die Rentiere lospreschten und draußen durch das Schneegestöber aufstiegen und mit dem Schlitten gen Himmel galoppierten.

 

„Was für eine Nacht“, entfuhr es der Mutter der Familie Pinecone. Sie ließ die Schultern fallen und alle anderen ihre notdürftigen Verteidigungsmittel sinken. „Das wäre überstanden!“, riefen einige der Boxenstoppwichtel und -elfen und begannen los zu wuseln, um alles für die Versorgung der Rentiere zusammenzutragen, wenn sie zurückkehrten.

Der Vater schien noch etwas neben sich zu stehen, aber erkundigte sich, an Tjorvik gewandt: Seid ihr mit dem Schlitten durch den Kamin gekommen?“

„Wie sich das gehört“, bestätigte Tjorvik mit einem ersten Grinsen. „Und er steht noch.“

„Der Kamin ist mir egal“, meldete sich die Tochter zu Wort – Mary, wenn der Wichtel sich recht erinnerte. „Meinetwegen soll das verfluchte Haus einstürzen. Ich will nur nach Hause…“

„Wir können euch dabei helfen, den Wagen freizuräumen“, meinte Anushka, die bei ihrer Ankunft das Fahrzeug draußen gesehen hatte. „Könnt ihr auch die Batterie wieder aufladen?“; fragte der Vater.

„Nicht direkt, aber wenn Santa zurückkommt, können wir euch die Rentiere vorspannen und das Auto bis zum nächsten Ort ziehen.“ „Das klingt nach einem guten Plan“, seufzte Mary. „Und bis dahin muss ich erstmal checken, was hier abging.“

Alle pflichteten ihr nacheinander bei und begannen zu lachen.

„Wir haben den Weihnachtsmann gesehen – und echte Weihnachtswichtel und -elfen!“, platzte es aus dem jüngeren Sohn heraus. Er lief zu Tjorvik und Anushka hinüber und stellte sich vor: „Ich bin Alfie. Erzählt ihr mir was darüber, wie das so ist, ihr zu sein?“

Die beiden tauschten einen Blick aus und lachten wieder. „In der letzten Zeit jedenfalls alles andere als weihnachtlich“, meinte Tjorvik, aber er legte dabei wie selbstverständlich einen Arm um Anushka, bevor sie Alfie Rede und Antwort auf seine neugierigen Fragen standen.

 

Als Santa Herrn Pastell zurück in die Forensik und Lania nach Hause gebracht hatte, kehrte er zurück und zog mit seinen Rentieren den Van erst durch die Schneewehen und dann über die vereiste Straße. Zuvor hatten die Boxenstoppwichtel den Rentieren etwaige Powerups aus Zuckerwatte und verzauberten Zimtsternen verfüttert, sodass das Auto - inklusive Familie Pinecone darin –voranrollte wie eine geölte Seifenkiste.

Tjorvik und Anushka verabschiedeten die Familie von der Eingangspforte des Anwesens aus und winkten ihnen nach. Santa hatte vereinbart, dass er die Familie am nächsten Ort, an dem sie Hilfe fand, absetzen und die Elfin und den Wichtel auf dem Rückweg einsammeln würde.

„Alfie meinte, er hätte uns noch ein Geschenk dagelassen“, meinte Anushka. Tjorvik sah sich um: „Hat Alfie dir auch gesagt, wo er es hingelegt hat?“

Sie schüttelte den Kopf. Das Schwarz der Nacht hatte sich zu einem helleren Grau gelichtet. Bald würde der Tag des Weihnachtsabends anbrechen. Als Tjorviks Blick nach oben über den Himmel wanderte, bemerkte er, dass etwas über der Eingangspforte hing. „Ich glaube, ich habe es gefunden“, sagte er. „Was?“ „Das Geschenk“, er deutete über sie. „Aber ich weiß nicht, was er sich dabei gedacht hat.“

Anushka lächelte, als auch sie den Mistelzweig entdeckt. „Tja“, meinte sie, „Ich schon.“ Sie beugte sich zu ihm herunter und er nahm ihre Hände in seine. Dann küssten sie sich.

Für einen Moment vergaß Tjorvik die Welt um sie herum. Und dann dachte er, dass diese Adventszeit als Fluch begonnen hatte und ihm nun zu Weihnachten schließlich einen Segen schenkte, der so schön war, dass er ihn sich niemals erträumt hätte.

 

FLUCH UND SEGEN

Das war die Geschichte von Fluch und Segen – davon, wie Herr Pastell zur Selbsteinsicht gelangte; davon, wie Lania ein Stück Familie wiederfand; davon, wie Tjorvik erst seinen Job verlor und dann seine Bestimmung erkannte, seine Liebe gestand und auch davon, wie Mary Pinecone zum ersten Mal auf einem Rentierschlitten mitfuhr.

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