Deine erste Begegnung...
Seit einigen Tagen bist Du alleine in der Kahane unterwegs. Während sich dein Pferd durch eine Sandwehe nach der nächsten gekämpft hat, scheint das Wüstenmeer kein Ende nehmen zu wollen.
Die Tage sind heiß und die Nächte kalt, dein Trinkwasser verbrennt dir in den Mittagsstunden den Mund und ist begrenzt.
Doch zum Glück hast Du noch etwas Proviant und näherst dich Denkara. In einigen Tagen wirst Du die Oase erreichen, um die die Wüstenmetropole errichtet ist. Du freust dich schon darauf, über Denkaras bunte Basare zu schlendern und Waren aus Übersee und Aromen aus Allerwelt kennenzulernen - und hoffst gleichzeitig keine Bekanntschaft mit den berüchtigten Taschendieben zu machen, die dort ihr Unwesen treiben sollen...
Einstweilen brauchst Du dir um sie allerdings keine Gedanken zu machen, denn noch sitzt Du allein an Deinem Lagerfeuer, dass Du anlässlich deiner nächtlichen Rast entfacht hast.
Irgendwo hinter Dir raschelt es in einem der wenigen Büsche, die in der lebensfeindlichen Kahane überlebt haben. Die Geräusche sind so unauffällig, dass sie beinahe mit dem Knistern des Feuers vor Dir verschmelzen. Du vermutest als Verursacher ein kleines Tier, das sich an den Flammen Deines Lagerfeuers wärmen will, bevor die nächtliche Kälte der Wüste Einzug hält - ein Schakal vielleicht. Da dein Pferd in einiger Entfernung mit gesenktem Kopf döst und sich nicht stören lässt, bist Du beruhigt und tastest nach deiner Satteltasche, um etwas von deinem Proviant zu essen. Du weißt, dass Du sie nicht einmal eine Armlänge entfernt von Dir gegen den Felsen gelehnt hast - doch als Du dich umdrehst, ist sie fort!
Das Rascheln ist verstummt. Du springst auf und versuchst mit den Augen die Dunkelheit und die Büsche zu durchdringen. "Hallo?", rufst Du hinein, ohne etwas erkennen zu können. "Wer ist da?!"
Nichts. Dir wird unwohl zu Mute und obwohl Du nichts Verdächtiges hören oder sehen kannst, fühlst Du Dich mit einem Mal beobachtet. An Deinem Gürtel hängt ein Messer, welches Du für gewöhnlich zum Zerteilen Deines Dörrfleisches verwendest. Du packst an seinen Griff und fühlst Dich etwas sicherer. Allerdings ist Deine Satteltasche nach wie vor verschwunden und ohne sie bist Du in der Wüste aufgeschmissen.
"Ich warne Dich!", sagst Du laut und versuchst Deine Gestalt so gut es geht vor dem Feuer aufzubauen. "Ich weiß, dass jemand da ist. Wenn Du Dich nicht sofort zeigst, werde ich Dich bei Tagesanbruch verfolgen. Mein Pferd ist schnell und ich werde Dich einholen." Du hoffst, dass dein unsichtbarer Gegenüber gerade nicht daran denkt, dass Spuren im Sand schnell verwehen. "Ich werde so oder so zurückholen, was mir gehört. Aber ich gebe Dir die Chance, mir meine Sachen zurückzugeben - Ich habe ohnehin nicht viel Wertvolles dabei, was Dir nützen könnte. Und wenn Du Hunger hast, können wir teilen."
...mit dem Langfinger.
Eine schmächtige Gestalt tritt aus dem Dunkel. Weder klein noch besonders groß, aber Dir fallen sofort die Hände mit den langgliedrigen Fingern auf, die Deine Satteltasche gepackt halten. "Teilen, sagst Du?", murmelt eine Stimme mit einer warmen Klangfarbe, während der zugehörige Mann keine Anstalten macht, sich Dir weiter zu nähern. "Du hättest besser auf die Sachen aufgepassen sollen, an denen dir etwas liegt." "Und nun?", fragst Du. "Gibst Du mir sie zurück?" Er räuspert sich: "Da ich mir damit wohl Ärger erspare..."
"Für die Sachen in der Tasche lohnt es sich nicht", versicherst Du ihm. "Und mir liegt auch nichts daran, dir nachzujagen."
"Mein Magen könnte etwas zu Essen vertragen", sagt er. Zögerlich kommt er ein Stück näher. Du kannst erkennen, dass er nicht viel mehr als ein dünnes Leinenhemd und eine Hose am Leibe trägt.
"Dir wird doch auch sicherlich kalt sein", erwiderst Du. "Setz dich mit mir ans Feuer und während wir essen, verrätst du mir etwas über dich."
​
"Im Grunde hast du schon erfahren, was du über mich wissen musst", meint der Fremde und umrundet in sicherer Entfernung zu Dir dein kleines Feuer. Dabei öffnet er deine Satteltasche in seinen Händen und sieht kurz, aber aufmerksam hinein. Indes hast Du wiederum Gelegenheit, Deinen unfreiwilligen Gast näher zu betrachten. Er mag Ende Zwanzig sein, vielleicht älter - sein wettergegerbtes Gesicht spricht jedenfalls dafür, dass es häufig der Wüstensonne ausgesetzt ist. Obwohl es schon kühl geworden ist, stehen ihm einige Schweißperlen auf der Stirn. Der verfilzte Bart hat nichts Anziehendes an sich, davon abgesehen, dass er sein spitzes Kinn runder wirken lässt. Das dunkle, schulterlange Haar hat er immerhin grob zusammengebunden, aber die Zuneigung eines Kamms haben wohl auch sie noch nie erfahren. Unter seinen hellbraunen Augen liegen tiefe Schatten, die von langen Nächten erzählen, aber sie huschen dennoch rasch über die Inhalte seiner Diebesbeute.
Nachdem er sich offenbar entschieden hat, dass nichts dabei ist, was sein Misstrauen weiter schürt, wirft er Dir die Tasche zu.
Du fängst sie auf und setzt dich, ein ganzes Stück beruhigter. Du bist zwar immer noch auf der Hut, aber du hast das starke Gefühl, dass die Selbstsicherheit deines Gegenübers nur aufgesetzt ist. "Also", sagst Du, während Du in deiner Tasche nach dem Proviant kramst. "Wer bist Du?"
Er beginnt zu grinsen: "In Denkara nennt man mich den Langfinger." Du gibst dich unbeeindruckt. "Und wie ist dein richtiger Name?" Sein Grinsen bröckelt. "Raeljo."
"Der im Schatten Geborene", sinnierst Du. "Schon meine Eltern hatten offenbar keine hohe Meinung von mir." "Aber nicht alle, die dort geboren werden, müssen auch dort wandeln", meinst du. "Ich lasse mich eben nicht vom Licht blenden", erwidert er patzig. "Ich bleibe lieber bescheiden, wenn es mich dafür nicht verbrennt."
"Deinen Diebesnamen hältst du allerdings nicht hinterm Berg." "Stehlen ist nunmal meine einzige Begabung - aber dafür bin ich gut darin." Kurz grummelt er vor sich hin. "Auf etwas muss man doch stolz sein, oder nicht?" Du wirfst ihm ein Stück Dörrfleisch zu: "Und was machst Du dann hier? Ich schätze mal, ich bin das einzige Opfer, was Du hier weit und breit finden könntest, um Deiner Begabung nachzugehen."
Raeljo lässt sich Zeit mit seiner Antwort, dafür aber nicht damit, das Dörrfleisch zu verschlingen. "Ich bin auf Entzug", erklärt er schließlich, während er an den letzten, zähen Stücken kaut. "Wenn es anders ginge, hätte ich Denkara gewiss nicht verlassen. Aber das Zeug bekomme ich dort an jeder zweiten Ecke, wenn ich will. Und ich würde nicht davon loskommen, aber es macht meine Beine langsamer, meine Lungen schwacher und meine Finger zittrig." Er schüttelt den Kopf: "Wenn ich überleben will, muss ich mich auf mich verlassen können und nicht auf dieses Zeug. Ich kann schon von Glück reden, dass mein Stammwirt Nafilje so ein Geizhals ist und mich neulich nicht hat verrecken lassen, damit er noch seine Zeche bezahlt bekommt... Meine alten Kräfte sind noch nicht ganz hergestellt, aber bald hat Denkara mich wieder."
"Und dann?" "Was soll dann sein?" Er lächelt Dich zum ersten Mal an: "Es geht endlich weiter wie bisher."
"Also stiehlst Du, weil Du Spaß daran hast?" "Hast Du nicht auch ein wenig Spaß daran, dich am Leben zu erhalten?" Raeljo zuckt die Schultern: "Denkara ist meine Heimat. Es mag größtenteils ein verkommenes Nest von Betrügern und Verrätern sein, aber ich habe gelernt, mich zurechtzufinden. Und seitdem genieße ich auch die falsche, schöne Fassade der Stadt, wenn ich will." Er sagt es ohne Ironie und Du glaubst ihm. Überhaupt stellst Du fest, dass seine Stimme im Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild sofort sehr einnehmend ist. Es ist nicht nur angenehm, ihm zuzuhören - all dem, was er Dir erzählt zuwider, liegt in seiner Stimme und der Art seines Ausdrucks eine erfrischende Aufrichtigkeit.
"Meine Art zu leben ist sicher nicht die leichteste oder klügste, aber für mich die einfachste", fährt Raeljo fort. "Ich brauche keine Freunde, nur das Lager der Geächteten, in das ich abends zurückkehren kann, um von anderen Beutezügen zu hören und dabei Sterne zu zählen, wenn ich will. Ich brauche keine Reichtümer, nur das Maß an Dingen, das in meine Taschen passt und mir den Magen rechtzeitig füllt, ohne dass ich Hunger leiden muss. Ich brauche nicht die Freiheit der großen weiten Welt oder der Wüste, wenn ich sie im Kleineren finde und dort zu beherrschen und zu schätzen weiß. Ich brauche nicht die Liebe von jemandem, wenn ich meine Freiheit dafür lieben kann, dass sie meine Verantwortung auf mich beschränkt."
"Wenn du damit glücklich bist..."
Raeljo hält inne. "Ich habe viel zu viel geredet. - Das ist gar nicht meine Art." Plötzlich scheint er verwirrt, irgendwie aufgewühlt. "Entschuldige, wenn ich dich damit gelangweilt habe." Du willst ihm widersprechen, aber er steht schon auf. "Ich sollte jetzt besser gehen."
"Ich will auch nach Denkara", erklärst Du. Du weißt selbst nicht genau, weshalb Du ihm vorschlägst: "Wir könnten das letzte Stück zusammen reisen." "Nein", sagt er schnell. "...Danke. Aber ich gehe lieber allein." "Zu Fuß?!" Er lächelt wieder. Es weicht seine Gesichtszüge auf und lässt sie so gar nicht wie die eines im Schatten Wandelnden wirken. "Alles wie immer", erwidert er. "Möge Dir weiterer Ärger erspart bleiben und die Stadt dich wieder unbeschadet ziehen lassen. - Dahingehend hast du übrigens bessere Chancen, wenn Du dich im Lada Zenca nicht von Nafilje über den Tisch ziehen lässt. Wenn er kann, wird auch er Dir deine Satteltasche stehlen. Aber im Gegensatz zu mir wird er behaupten, Du würdest ihm etwas schulden."
Er hebt kurz die Hand. "Leb wohl. Es wird wohl am besten für dich sein, wenn wir uns nicht wiedersehen."
Raeljo verschwindet in der Nacht und Du bleibst an deinem Feuer sitzen, noch eine Weile in die knisternden Flammen schauend, immer eine Hand auf deiner Satteltasche. Als Du dich schlafen legst, bettest Du deinen Kopf darauf.
​Schließlich musst du auf die Sachen Acht geben, die dir wichtig sind.