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Die Legende von Dschahal

Das Feuerwesen Dschahal gilt seit Jahrhunderten als verschollen. Während seine tatsächliche Existenz umstritten ist, besteht keine Uneinigkeit über die Macht, die Dschahal besitzt. Die ungelösten Rätsel um seinen Ursprung, seine Natur und Ziele lassen der blühenden Fantasie der begabten Geschichtenerzähler der Wüste erhebliche Freiheiten, möchte man meinen! Umso verwunderlicher erscheint es manchem, dass trotz dessen nahezu immer dieselbe Geschichte erzählt wird. Und so erzählt sie der Langfinger Raeljo aufgewachsen in den Straßen Denkaras:

„Dies ist eine Geschichte von Blut und Terror, von Wahnsinn und Verrat… Eine Geschichte, in der die ersten Sterne der Nacht fernblieben und das letzte Wasser der Wüste versickerte.

Man sagt, die kahane‘sche Sonne brennt die Seele von all jenen aus, die kein reines Herz besitzen. So verhielt es sich wohl mit einem Mann namens Arkon, der eines Tages aus der Wüste emporkroch wie ein Skorpion bei Nacht aus dem Sand.

Arkons Herz war mit Liebe zur Macht angefüllt und alles andere in ihm verkümmerte, je stärker sein Verlangen nach Mehr wurde. Zu Anfang kannte niemand seinen Namen, doch dies sollte sich ändern, als die ersten Leichen Straßen der Stadt pflasterten, in welcher er seinen Raubzug begann. Denn er trachtete nach nichts Geringerem als uneingeschränkter Herrschaft über die Wüste und das Land.

Am Tage seiner Erhebung zum Padischah von Denkara wand sich ein unruhiges Raunen rund um die Oase, durch die Berghänge hinauf bis in die letzten verwinkelten Gassen der Stadt. Die Denkarer spürten bereits, dass der Padischahstitel nicht Arkons letztes Ziel war. Obgleich er seine Habgier demonstrativ zur Schau stellte, wurde rasch offenbar, dass Arkon sich ebenso an seiner eigenen Grausamkeit und an der Ausfeilung seiner wahnhaften Vorhaben ergötzte.

Mit Arkons Terrorherrschaft begann eine dunkle Ära der Zerstörung für die Stadt und Zendura, die bis heute ihresgleichen sucht.

Als Denkara auf Geheiß seines Schahs Soldaten rekrutierte und sich anschickte, zum größten Militärlager Zenduras zu erstarken, wurden jene Herrscher, welche die Regionen an der Küste und um die Savanne Munan regierten, auf die Wüstenstadt aufmerksam. Arkon hatte es nie für notwendig erachtet, die anderen Padischahs von seinen Ambitionen zu unterrichten oder sonstige Beziehungen zu ihnen zu unterhalten. Daher berief der Schah von Majárak ein geheimes Treffen ein, auf dem beschlossen werden sollte, wie mit den Arkons Gebaren zu verfahren sei.

Aus den Mündern seiner Spione erfuhr Arkon von dem Treffen, welches über sein Schicksal entscheiden sollte, und er beschloss, seine mächtigsten Rivalen und potentiellen Widersacher mit einem einzigen Schlag zu vernichten.

Er schickte seine skrupellosesten Schergen nach Majárak – neun an der Zahl, als wollte er dem neunten Gott, dem Dscheifat huldigen – und auf unbegreifliche Weise gelang das scheußliche Attentat, welches Arkon ersonnen hatte. Ohne Rücksicht auf Verluste bahnten seine Meuchler sich ihren Weg in den Palast, metzelten die versammelten Padischahs nieder und ließen vom höchsten Turm in Majárak Denkaras kriegsschreiende Flagge wehen.

An diesem Tag sah man Arkon lächeln, während andernorts von Treppenstufen, Böden und Wänden das Blut rann, welches an seinen Händen klebte. Die sieben Herrscher Zenduras, die Arkons Bestrebungen Einhalt hätten gebieten können, waren mit einem einzigen Streich getötet worden. Zendura hüllte sich in klagende Finsternis, das gesamte Land stürzte ins Unglück.

Die Menschen Zenduras versanken nicht in Lethargie, sie erhoben und bewaffneten sich, um sich dem Vormarsch des Schreckensherrschers, des Usurpators, entgegenzustellen. Die Kahane verwandelte sich in ein Schlachtfeld, als man versuchte, Arkon in seiner Wüste zu halten. Zu jenen Zeiten gaben die Verzweifelten, welche um ihre Freiheit rangen, der Kahane den Beinamen Numa Seth, Blutsand.

Die Bataillone des grausamen Padischahs zerfleischten die Widerstandskämpfer wie reißende Berglöwen eine verängstigte Schafherde. Die Gegner Arkons waren von einer drohenden Tyrannei aufgescheucht worden, aber was sie vorfanden und worin sie untergingen war der Inbegriff von ausweidendem Chaos. Zendura lernte Arkons neues Antlitz fürchten; denn man hatte seinen Hass entfesselt. Er wähnte sich beraubt, hatten seine Attentäter doch Denkaras Flagge über der Todesstätte der übrigen Padischahs wehen lassen – und dennoch wollte man ihm die Herrschaft verwehren, den Schlüssel für das ganze Land nicht widerstandslos in die Hand legen.

Die Mahlwerke der Unterjochung Zenduras drehten sich so rasch, wie Arkons Soldaten unaufhaltsam voranmarschierten. Doch unterdessen verfiel der Padischah endgültig seinem Blutrausch und seinem Wahnsinn. Als Arkons Heer schließlich zu den Ausläufern der Kahane vorgedrungen war, befahl Arkon, von nun an jeden Mann, jede Frau, jedes Kind zu töten, auf dass er ein reines Land erobern würde. „Der Geblendete“ – einer von vielen seiner Namen, hatte seine Seele verkauft, um einzig seiner Geliebten Raum zu schaffen – der Macht. Er wollte sie um ihrer selbst willen. Und als die zendurische Bevölkerung ihn um die Anerkennung seiner Macht betrügen wollte, entschied er, statt über ein lebendiges, missgünstiges lieber über ein totes Land herrschen zu wollen.

Doch sobald der Padischah diesen Entschluss fällte, gerieten die Mahlwerke seines Siegeszuges ins Stocken und seine Soldaten ins Stolpern. Denn aus dem verschütteten Sand zwischen den Mahlwerken und dem kochenden Blut der Schwertträger brach knirschend und brodelnd ein Biest unbekannter Herkunft unter einem geschwärzten Himmel hervor.

Es war ein undefinierbares Mischwesen mit dem Kopf eines Schakals und den Flügeln und der gefiederten Brust eines Greifs, während der Vorderleib der eines Löwen und der übrige Körper der eines Lindwurms, der eines Drachens, war.

Die Anhänger des erejischen Glaubens verkündeten alsbald, das Biest sei der weise Abgesandte des Todesgottes, des Dscheifats, und der Bruder der Schicksalsgöttin Sitára; sagten andere, das sprechende Wesen sei aus den erstarrten Tränen der Toten und der Asche der verbrannten Leichenberge geboren, um die stummen Opfer zu rächen und Gerechtigkeit zu bringen.

Mit seinen Schwingen stieß das Biest auf Arkons Heer hinab und kesselte es mit einem Wüstensturm ein, der ebenso heulte und fauchte und schwelte wie das Feuer in seiner Kehle. Ein unbesiegbarer Bezwinger, Zenduras Retter… Es war ausgerechnet der ungeschlagene Eroberer, Zenduras Zerstörer, welcher als Erster den Tod in der Flammenglut des Biests fand. Aber sein weißes Feuer vermochte nicht heilen, was Arkons Geist zerrüttet hatte.

Arkons Körper zerfiel zu Staub, während er den Rächer der Widerständler und der Unterdrückten mit seinem Hass und seinem Wahnsinn vergiftete. Kaum war das Heer des Schahs zerschlagen, begann das Biest zu unvorstellbarer Größe anzuwachsen und zu wüten wie eine stärkere, gestählte Mutation seines ersten Opfers: Das Gold in seinen Schakalaugen schmolz zu Rubinen, der Rauch in seiner Kehle formte seine Stimme zu einem unerträglichen Grollen und Brüllen. Die weißen Flammen, die aus seinem Rachen strömten, wurden von lechzendem Rot getränkt und verloren jedes Erbarmen und jede Ehrfurcht vor dem Leben.

Die Menschen gaben dem Biest den Namen Dschahal – tödlicher Feuerbringer.

Er brachte Furchtbares über all die, die er einst bekämpft hatte und auch über all jene, die er erst befreit hatte. Von nun an verdunkelten Dschahals Schwingen bei Tage die Sonne und vertrieben bei Nacht die Sterne. Nur seine Infernos erhellten die Wüste, die Küste, die Savanne, die Schluchten…

Als erstes floh das Wasser vor den Flammen und ließ die Menschen durstend zurück. Doch für jene gab es kein Entkommen. Ganz gleich, ob Bedhune oder Anjelda, ob Städter oder Provinzler, die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern und schlugen die Hände über den Köpfen zusammen, wenn sie hörten, wie Dschahal die unwirkliche Stille mit dem Aufbrausen des Windes durchschnitt. Selbst die Kahane schien sich seinem Terror zu beugen, dass der Sand sich krümmte und in Asche versank. In den Ruß behafteten Ruinen erinnerte nichts mehr an florierende Basare und blühendes Leben. Die Dünen, die Dschahal hinterließ, waren grau und überladen mit Schutt. Sie sackten ein, sobald man versuchte, einen Fuß auf sie zu setzen. Wenn das Feuerwesen kreiste, krachten Felsbrocken aus den Steinmassiven und die Erde platzte auf wie der poröse Gehstock des greisen Mannes Himmel, der schien als müsste er stolpern und niedersinken über Kummer und Verderben, die Dschahal unter seiner Kuppel streute.

Zendura sah sich am Abgrund zur Verdammnis. Arkons Vermächtnis, der geblendete Dschahal, ließ sich noch viel weniger bekämpfen als der grausame Padischah. Gegen das Feuerwesen waren Speere, Pfeile und Klingen völlig wirkungslos, sogar schwere Bolzen von Ballisten und sprengende Geschosse aus Katapulten vermochten nichts gegen ihn auszurichten.

Dschahal führte keinen Kriegszug. Er war die Vernichtung selbst.

… Der Schrecken war allgegenwärtig. Das Feuerwesen drohte, alles Leben, ja, die Menschheit in Zendura auszurotten - und womöglich darüber hinaus. Nichts anderes schien es im Sinn zu haben.

 

Trotz allen Leides finden sich in dieser Geschichte auch ein Aufatmen, ein Funken Hoffnung. Denn im Augenblick größter Not, als die Kahane ein wogendes Flammenmeer war und zischender Dunst aus dem verdampfenden Ozean Angoniens aufstieg, just in diesem Moment verschwand Dschahal in der Wüste, zwischen den Brandherden, die er selbst angefacht hatte.

Niemand sah es, niemand bemerkte es, bis sich der Nebel über dem angonischen Meer gelichtet und sich der Rauch über der Wüste verzogen hatte. Und niemand konnte sich das Verschwinden des Feuerwesens erklären. Wieder einmal behaupteten die Erejer, eine Antwort zu kennen; dass Dschahal von den Göttern heimgerufen worden sei. Die übrigen nahmen an, Arkons Gift des Hasses und Wahnsinns hätten von Dschahal abgelassen und er sei in Scham vor seinen eigenen Taten geflohen.

Als die Zeit verstrich und Dschahal nicht zurückkehrte, glitt ein tiefes Seufzen durch Zendura. Regen floss vom ausgelaugten Himmel, heilendes Wasser benetzte die Trauer und Qual der Menschen, bevor es wieder die Brunnen und Oasen füllte. Krieg und Chaos hatten ein Ende, obgleich ihr Grauen und ihre Zerstörung lange nachhallten. Aber es war der Mut, der zu den Menschen zurückkehrte und der sie ihrer Entbehrungen und Erschöpfung zum Trotz dazu anhielt, einen Neuanfang zu machen.

 

Dies war eine Geschichte von Blut und Terror, von Wahnsinn und Verrat… Von ungelösten Geheimnissen und vom Ausharren, bis es die Gelegenheit zum Aufbruch gibt.“

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