Legenden der Kahane
Trotz und gerade wegen seines Sachverstandes fürchtet sich Efraim, der Leibarzt des denkarischen Padischahs, vor kaum etwas mehr als vor der Wüste. Zeit seines Lebens hat er es vermieden, einen Fuß in das Sandmeer zu setzen. Angesichts der Schreckensgeschichten, die man sich über die Kahane erzählt, nicht verwunderlich.
Vor den Toren seines Anwesens hörte Efraim am nächsten Morgen sein Pferd wiehern und mit seinem Geschirr klirren. Es ist Zeit, sagte er sich, doch er konnte den Blick nicht von der nahen Wüste abwenden.
Das große, gen Westen gerichtete Fenster fing die Wüste weniger auf, als dass es sie freigeben musste. Beinahe schien es dem Leibarzt, als bräche das Dünenmeer hinter den Rahmen hervor. Ein winziger Ausschnitt, der ihm zu betrachten blieb, von der wilden, gewaltigen Masse. Sand, der sich in sich selbst verlor; ein Verderben, das sich aus Hitze, Staub und Dreck zu unbezwingbaren Bergen auftürmte.
Kahane. Dieses Wort verkörperte für ihn einen zweiten Dscheifat. Eine zweite Hölle, eine zweite Dschehenna. Sei kein Narr, Efraim, schalt er sich. Du bist zu alt, um an Ammenmärchen zu glauben, und erst recht, um dir davon Angst einjagen zu lassen. Ammenmärchen, von denen er hunderte Male gehört oder gelesen hatte.
Geschichten über die Wüste und die Menschen, die nie wieder auftauchten. Geschichten über die Verschlungenen, die von einer ins Rutschen geratenen Sandgrube lebendig begraben wurden; Geschichten über die Reisenden, die, von den Wüstenstämmen überfallen, ausgeraubt und ermordet wurden – nun, das war sicher nicht erfunden, aber für Efraim bei weitem nicht das Furchterregendste.
Denn da gab es weitere Erzählungen.
Märchen über die Wüste und ihre Verunglückten. Über menschliche Gebeine, welche der Sand mit der Zeit glattgeschliffen und dann zurück an die Oberfläche gespült hatte; über Knochen, die sangen, wenn der Wind über sie strich, an jenem Tag im Jahr, der die Toten das Leben gekostet hatte… Knochen, die einen Geistersturm heraufbeschwören konnten, einen Geistersturm aus verlorenen Seelen und heulendem Sand, dem niemand zu entrinnen vermochte.
Und da gab es weitere Erzählungen.
Märchen von grässlichen Wölfen, die des Nachts bei Vollmond in der Wüste aus dem Sand erstanden, um im Rudel Jagd zu machen. Jagd auf unachtsame Reisende, an deren Blut sie sich labten, bis nicht die geringste Spur von den Verschiedenen übrigblieb.
Es gab weitere Erzählungen.
Märchen von der Spiegelschlange, die sich häutete und ihre farbigen Schuppen zurückließ, welche mit Hilfe der Sonne eine Fata Morgana warfen. Ein Trugbild, das die schönsten Oasen erschuf und Durstende verführte, sie manchmal nur kurz, manchmal über viele Velar hinweg ins Nichts stolpern ließ.
Märchen von grünen und roten Skarabäenvölker. Die Grünen, welche dem Verirrten Rettung in letzter Not versprachen und ihn zu einer Wasserstelle führten. Oder die Roten, die auf ihrem Panzer ein verfluchtes Zeichen trugen, das ihre Opfer lähmte und jeden noch in ihm verbliebenen Wasservorrat aus ihm hinaussaugen konnten. – Auf die Art, dass bald darauf ein Mensch aus verdorrter Haut und Knochen als Haufen in sich zusammenfiel und nicht mehr aufstand.
Das und noch mehr erzählte man sich über die riesige Kahane, eine Wüste voller Tücken und Unbarmherzigkeit. Alles Märchen, die einen Kern der Realität enthielten?
Efraim wusste es nicht und es gab kaum etwas, dass er schwerer aushalten konnte als Unwissenheit. Seine Bildung und sein Verstand verboten es ihm, im Entferntesten an solche Dinge zu glauben. Aber seine tief sitzende Furcht vor der Kahane sprach eine andere Sprache.
Ihm war bewusst, dass er Opfer bringen musste, um sein Ziel zu erreichen. Doch lieber hätte er sich jedem menschlichen Feind gestellt, als sich dem Sandmeer auszuliefern. Hier auf seinem Denkarer Anwesen war die Wüste nur ein Bild hinter dem dünnen Fensterglas. Draußen hingegen mochte sie grausame Wirklichkeit sein.
In Zendura erzählt man sich viele Geschichten und Legenden. Die Wüste ist karg und öde und die Prunkbauten der Reichen erinnern einen lediglich an das, wofür man schuftet und was man niemals haben wird. Tagsüber jagt einen die Sonne in die Schatten, nachts erfriert man fast, aber alles geht seinen Lauf.
In Zendura erzählt man sich viele Geschichten und Legenden, weil man selbst keine schreibt.