top of page

ADVENT, ADVENT, DIE FEDER BRENNT – VOL. 1:

FLUCH UND SEGEN

 

Kapitel I: AUSGANG 3.12.

LIMITIERT: HERR PASTELL

Herr Pastell hatte lange Zeit darauf verwendet, das Vertrauen seiner Therapeuten zu gewinnen. Heute sollten seine Anstrengungen zum ersten Mal greifbare Früchte tragen. Das Weißlicht aus den Neonröhren über ihnen flackerte ein wenig, als sein erster und längster Therapeut ihm gegenüber Platz nahm. Er hatte außerhalb der Reihe einen Termin mit ihm vereinbart. „Sie haben große Fortschritte gemacht, Herr Pastell. Das ist etwas, was nicht viele schaffen“, war das Erste, was der Therapeut zu ihm sagte. „Sie können stolz auf sich sein.“

Herr Pastell nickte und lächelte. Der Therapeut lächelte zurück. Das hatte er bislang nie getan. „Ich habe gute Nachrichten für Sie. – Ihnen wurde der Weihnachtsausgang bewilligt.“ „Dann soll es bis dahin schneien. Ich habe eine Idee für ein Kunstwerk, das dort besonders gut zur Geltung kommen würde.“

„Die Chancen stehen gut“, meinte der Mann, während er rasch etwas auf dem Bogen in seinem Klemmbrett vermerkte. Herr Pastell runzelte die Stirn. „Wollen Sie mich nicht anschauen, wenn ich mit Ihnen rede?“

Der Therapeut sah überrascht auf. „Natürlich. Entschuldigen Sie. Aber Sie wissen ja, ich muss…“

Herr Pastell winkte ab, lehnte sich in dem Plastikstuhl zurück und starrte an die weiße Decke. Die klinische Reinheit der Forensik war eine Zumutung für seine künstlerische Ader und seine Liebe zu Farben. Sein Name – Pastell – täuschte über seine Vorlieben hinweg. Nicht die seichten Töne waren es, die seinen Blick erregten, sondern die kräftigen, von denen es in der Anstalt kaum welche zu finden gab – erst recht nicht in dunkelblau, -grau und rot. Alles Farben, die früher auf seiner Palette nicht fehlen durften.

Im Zuge seines unfreiwilligen Aufenthaltes hier hatte er das Malen pausiert. Er hielt es zwar für einen Verlust, seine Werke der Welt nicht zur Schau zu stellen, aber er hatte herausgefunden, dass sie die zartbesaiteten Leute erschreckten. Sie bewirkten, dass sich die meisten ihm gegenüber abweisender verhielten. Und das war unvorteilhaft, da er hier drin auf soziale Kontakte angewiesen war, um sich nicht zu Tode zu langweilen.

Doch inzwischen bluteten seine Augen von der Eintönigkeit, die ihn umgab. An den Schwarz-Weißmustern hatte er sich längst satt gesehen. Es wurde also Zeit zu gehen. Und der Therapeut hatte ihm gerade dafür den Schlüssel überreicht, wenigstens verbal.

„Haben Sie die Bewilligung schriftlich?“, fragte Herr Pastell.

„Bitte sehr. Hier ist eine Kopie.“

Herr Pastell überflog das Formular und begutachtete die Unterschriften. „Hier steht: In Begleitung von zwei Mitarbeitern, davon ein Sicherheitsgeschulter. Sind Sie sich sicher, dass das notwendig ist?“ „Nun ja, es ist Ihr erster richtiger Ausgang. Da gibt es Vorschriften und Lockerungsstufen. Schauen wir doch erst einmal, wie es funktioniert, Herr Pastell, und dann sehen wir weiter.“

„In Ordnung.“ „Sie müssen diesen Ausgang als Vertrauensbeweis verstehen. Für uns bedeutet es, dass Sie so gut mit uns zusammengearbeitet haben, dass wir uns sicherer sein können das Risiko, das von Ihnen ausgeht, einzuschätzen.“

„Ich habe Erfolge in meiner Impulskontrolle erzielt.“ „Da haben Sie Recht, Herr Pastell. Nichtsdestotrotz gibt es noch viel zu tun. Schließlich haben Sie selbst gesagt, dass Sie der Ausprägung Ihrer dissozialen Persönlichkeitsstörung zum Trotz der Erste unserer Patienten sein werden, die sich vollständig resozialisieren.“

„Sie können ruhig sagen, dass ich ein Psychopath bin“, Herr Pastell beugte sich ein wenig vor, um Vertraulichkeit zu signalisieren. „Wie heißt es noch gleich? … Ah. Man soll das Kind beim Namen nennen. Und ich bin doch jetzt so etwas wie Ihr Kind, oder?“

„Nun ja, Herr Pastell. Ich denke, das trifft es wohl nicht ganz. Sie sind kein Kind. Sie müssen Verantwortung für Ihr Handeln übernehmen – und das lernen Sie unter anderem mit mir.“ Der Therapeut räusperte sich. „Und genau deshalb bekommen Sie heute noch eine Aufgabe von mir. Wenn Sie sich darauf einlassen, können Sie sie sicher mit Bravour lösen.“

„Und was ist das für eine Aufgabe?“

„Sie schreiben einen Wunschzettel. Es mag sich banal anhören.“ „Oder kindisch“, warf Herr Pastell ein. Der Therapeut nickte unbekümmert. Herr Pastell fragte sich, ob er seinen Witz nicht verstanden hatte oder nicht verstehen wollte und merkte, dass leichter Groll in ihm emporstieg. Aber dann legte er seine beiden Hände auf die Bewilligung, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte und entschied sich gegen einen gehässigen Kommentar.

„Jedenfalls möchte ich Sie bitten, den Wunschzettel auszufüllen mit Dingen, die Sie gerne auf Ihrem Ausgang erreichen möchten. Adressieren Sie den Zettel an jemanden: Es kann der Weihnachtsmann sein, das Jesuskind oder irgendjemand anderes, den Sie nicht persönlich kennen. Überlegen Sie, wie er oder sie Ihnen helfen könnte – und formulieren Sie Ihre Bitten. Denken Sie daran, man ist Ihnen nichts schuldig. Und anschließend schreiben Sie auf, was Sie Ihrem Gegenüber entgegenbringen – wie helfen Sie mit, dass Ihr Vorhaben gelingt?“ Der Therapeut reichte ihm ein vorbedrucktes Papier – mit einigen überflüssigen Schnörkeln und Verzierungen in den Ecken. „Ihren Zettel bringen Sie ausgefüllt zu unserer nächsten Sitzung mit. Wir sprechen darüber – und noch einmal, wenn Sie von Ihrem Ausgang zurück sind.“

„Ein vernünftiger Plan“, meinte Herr Pastell. Das „Wenn Sie wüssten…“, das dachte er nur.

FRISTLOS: TJORVIK

„Ich fass es nicht“, der Weihnachtswichtel zog so rasch an seiner Pfeife, dass die Elfin, die ihn mit nach draußen begleitet hatte, kurzzeitig im Rauch verschwand. Hustend wedelte sie mit ihrer Hand. „Tjorvik!“

„Entschuldige.“ Er hielt die Pfeife ein Stück weg von ihr und versuchte sich die zu Berge stehenden Haare zu glätten. „Verdammter Kerzenwachs!“, fluchte er und betrachtete voller Entsetzen die blonden Haare in seinen Händen, die er sich ausgerissen hatte.

„Ein bisschen weniger davon würde deiner Frisur auch nicht schaden“, murmelte seine Gegenüber, die sich wieder aus dem Rauch befreit hatte.

„Ist das dein Ernst, Anushka? – Ich könnte gerade emotionale Unterstützung gebrauchen!“

„Aber deshalb muss ich nicht lügen.“ Wie zur Bekräftigung ihrer eigenen Worte schüttelte Anushka den Kopf. „Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist, nur…“

„Was?“, unterbrach er sie. Außer sich warf er die Hände in die Luft und dabei fast sein teuerstes Stück – die Pfeife – fort. „Was willst du damit sagen? – Dass du damit einverstanden bist, dass mir Santa eben ohne Weiteres die Kündigung vor die Nase geknallt hat? Es wurde noch nie jemand gekündigt, der nicht mindestens die Kündigung mit Geschenkband überreicht bekommen hat. Und bei mir? Nichts davon!“

„Über die Art lässt sich streiten, aber…“

Tjorvik lief puterrot an und Anushka zog eine Grimasse: „Du musst schon zugeben, dass du deine Aufgabe nicht wirklich ernst genommen hast. Du hast so oft gestreikt oder mit Santa diskutiert, dass wir alle deine Arbeit miterledigen mussten.“ „Und warum habe ich gestreikt und diskutiert? – Weil ich es nicht einsehe, weshalb wir uns Jahr für Jahr diesen Stress machen, wenn wir doch ohnehin überflüssig werden! Wir sind nun mal nicht mehr hip. Unsere ollen Geschenke kommen nicht gegen die Konsumprodukte an. PS5 da, Gucci-Tasche hier – das haben wir nicht im Angebot, steht aber überall auf der Wunschliste! Mal ganz zu schweigen davon, dass keine Rentiere der Welt sich so hetzen lassen wie die Amazon Prime-Postboten.“

Tjorvik hatte sich in Rage geredet und musste Luft holen, sodass die Weihnachtselfin wieder zu Wort kam. „Santa sagt doch immer, die Menschen schreiben unsere Geschenke häufig nicht auf die Liste – weil sie für sie selbstverständlich sind. Wir sorgen dafür, dass sie nicht einmal daran denken müssen.“

„Was ist das denn für ein Geschäftsmodell?“, schnaubte Tjorvik. „Und das ist doch nicht Sinn und Zweck der Sache! Zeit schenken, wenn die Leute sich gar keine Zeit nehmen wollen? Zeit schenken, wenn sie nicht ankommt und sie andere dringender bräuchten? Schöne Begegnungen anbandeln, obwohl die gar nicht mehr wertgeschätzt werden?“

„Fest steht, dass du dich der Arbeit verweigert hast, Tjorvik. Und dass du mit all deinen Fragen und deiner Meckerei den Betrieb aufhältst. Santa feuert dich sicherlich nicht leichtfertig, aber es ist das Beste für alle, wenn du dir eine Arbeit suchst, bei der du nicht an einen strikten Zeitplan gebunden bist.“

Er starrte die Weihnachtselfin an. „Ich soll also wieder gewöhnlicher Wichtel werden, ja?“ Um sich noch einigermaßen im Zaum zu halten, nahm Tjorvik nahm einen kräftigen Pfeifenzug,– Schluck, hätte man sagen können –, sodass seine runden Augen kurz auf ihre doppelte Größe anwuchsen. „Das lasse ich mir nicht bieten! Ich besorge mir einen Anwalt.“

Anushka zuckte mit den Schultern: „Tu, was du nicht lassen kannst.“

Plötzlich brach unter seiner Hysterie die Verzweiflung hervor, als sich seine Arbeitskollegin abwenden wollte. „Aber, Anushka! Was wäre das für ein Abstieg?! Erinnerst du dich nicht mehr, wie viele Bewerbungsverfahren wir durchlaufen mussten?“

„Doch“, meinte sie. „Das ist bei mir noch nicht so lange her wie bei dir. – Und ich habe keine Mutter, die mit Santa per Du war und im Weihnachtskomitee gesessen hat“, fügte sie etwas säuerlich hinzu. „Geh nach Hause, Tjorvik. Du wirst ohne Probleme eine andere Stelle finden. Und Santa stellt dir bestimmt trotzdem ein gutes Zeugnis aus.“

„Trotzdem?“, wiederholte er. „Trotzdem?! – Anushka, ich dachte, wir wären Freunde!“

„Freundschaften pflegt man. Man nimmt sich nicht immer nur von ihnen, wenn man etwas braucht, Tjorvik. – Weißt du, eigentlich wollte ich es dir nicht sagen, aber vielleicht hast du dich mit deinen Streitereien auch deshalb vor dem Job gedrückt, weil du eigentlich überhaupt nichts von den Dingen verstehst, die wir verschenken.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ließ Tjorvik auf dem Innenhof der Weihnachtswerkstatt zurück.

In seinem Missmut wollte fest auf den Boden stampfen – aber wie üblich ließ ihn die Wolkendecke weich einsinken. Wütend stieß er einen Schrei aus, schlug auf seine Tasche, in der die Kündigung steckte und biss so fest auf seine Pfeife, dass sich die Abdrücke seiner Zähne ins Holz des Mundstücks bohrten und er Kieferschmerzen bekam.

Dabei bemerkte er zufällig, wie sich in der Chefetage der Werkstatt etwas hinter dem Eisblumen besetzten Fenster regte. Der Weihnachtswichtel sprang mehrmals in die Luft, sodass sich jedes Mal sein maßgeschneiderter Anzug über seinem Wohlstandsbäuchlein spannte und schüttelte dabei seinem Boss die Faust wild entgegen. „Verflucht seist du, Santa! – Dir zeig ich’s!“

 

Als Tjorvik nach Hause stapfte, sprang seine Zipfelmütze in seinem Rücken trotzig auf und ab. Zusammen mit dem Tabak in seiner anhaltend brennenden Pfeife verdampfte auch ein Bruchteil seiner Wut.

Das war schlecht, denn er hatte niemanden, den er anbrüllen konnte, um sich selbst wieder anzustacheln – und das bedeutete, das sich ein kleiner, aber schneidender Faden Traurigkeit um seine Gedanken legte. Hätten sie passendes Geschenkpapier gebraucht, wäre es nicht länger mit aufgeplusterten Angrybirds, sondern mit kahlen Weidenbäumen bedruckt gewesen.

Tjorvik ließ die Schultern hängen – sie sanken immer tiefer. Seine Augen begannen zu brennen, aber er redete sich ein, dass es vom Pfeifenrauch kam.

Ihn beherrschte nur eins: Ich will meinen Job zurück.

WEITER GEHTS MIT KAPITEL ZWEI (bereits online)! :)

bottom of page