ADVENT, ADVENT, DIE FEDER BRENNT – VOL. 1:
FLUCH UND SEGEN
Kapitel IV: AUSBRUCH 23.12.
- MORGENS: HERR PASTELL
Herr Pastell saß wieder seinem Therapeuten gegenüber. „Heute ist der große Tag, Herr Pastell“, sagte der Therapeut und wollte wissen: „Welche Gedanken haben Sie zu Ihrem Ausgang?“
Herr Pastell lächelte schmal: „Ich freu mich darauf.“
„Haben Sie den Wunschzettel ausgefüllt, den ich Ihnen mitgegeben habe?“
„Ja“, meinte er. „Aber ich möchte ihn nicht zeigen.“ „Warum nicht?“
„Der Inhalt ist mir zu persönlich“, log er. Diese Antwort hatte er sich bereits vorab zurechtgelegt. „Ich fühle mich nicht bereit dazu, ihn mit Ihnen zu teilen.“
„Hm.“ Der Therapeut runzelte die Stirn: „Das ist natürlich völlig in Ordnung. Es wundert mich nur etwas, weil Sie ansonsten mit allem recht offen umgehen und es wenig Dinge gibt, von denen ich bisher erfahren konnte, die Sie persönlich berühren.“ Er machte einen seiner Vermerke auf seinem Notizblock, bevor er wissen wollte: „Aber den Zettel haben Sie noch?“
Herr Pastell nickte – in gewisser Weise stimmte das sogar. Er hätte ihn mit Sicherheit noch in seinem Papierkorb, wenn der Plapperputzer nicht jeden Tag sämtliche Mülleimer in ihrem Zimmer leeren würde. Und dafür konnte Herr Pastell schließlich nichts.
„Also gut.“
„Ich habe an meine Schwester gedacht“, fügte Herr Pastell hinzu, als er merkte, dass sein Gegenüber nicht überzeugt war. „Wir haben eigentlich ein gutes Verhältnis, aber ich habe ihr das nie richtig gezeigt, glaube ich. Das will ich ändern.“
Die Miene des Therapeuten hellte sich auf. „Tatsächlich?“
„Nun ja. Ich will mit einem Geschenk zu Weihnachten anfangen.“
„Das klingt nach einer guten Idee, Herr Pastell. Wenn Sie möchten, dass Menschen Ihnen gewogen bleiben, ist es von Vorteil, wenn Sie ihnen Ihre Zuneigung zeigen.“
„Das weiß ich… habe ich hier gelernt, schätze ich.“ Herr Pastell konnte förmlich hören, wie sich der Therapeut bei den Worten seines Patienten innerlich selbst auf die Schulter klopfte und musste sich das Grinsen verkneifen.
„Das freut mich für Sie, Herr Pastell.“ Der Therapeut räkelte sich: „Denken Sie daran, was für ein besonderes Zeugnis Ihrer Disziplin und Selbstkontrolle ein reibungsloser Ablauf Ihres Ausgangs bedeutet. – Und dann wünsche ich Ihnen dort eine schöne Zeit und frohe Weihnachten!“
„Danke“, sagte Herr Pastell. „Die werde ich haben.“
- NACHMITTAGS: LANIA PINECONE-PASTELL
Sie saß am Tisch ihres kleinen Hotelzimmers in Marshall Meadows, vor sich den Adventskranz mit den vier heruntergebrannten Kerzen, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display wurde eine unbekannte Nummer angezeigt.
„Lania Pastell?“, meldete sie sich mit ihrem Namen und starrte auf den leeren Karton vor sich, in dem sie ihre Tiefkühllasagne gegessen hatte.
„Hallo, Lania.“
Sie erschrak, als sie seine Stimme hörte. „Patrick?!“
Kurz blieb es still auf der anderen Seite der Leitung, dann antwortete er: „Ja, ich bin es. Dein Bruder.“
„Patrick, aber bist du nicht…?“
„Ich bin frei“, unterbrach er sie beschwingt. Sie schluckte. „Wie meinst du das?“
„Ich hatte heute Ausgang und hab vorhin meine Begleiter abgehängt. Ein Sprung durchs Toilettenfenster, ein Anruf an einen alten Bekannten, der sich mit Fußfesseln auskennt und eine Mitfahrgelegenheit… Und schon bin ich auf dem Weg zu dir!“
„Patrick, verarschst du mich?“
„Nein, Schwesterherz. Ich hab mir vorgenommen, dich zu besuchen und dir ein ganz besonderes Geschenk vorbeizubringen. Dafür muss ich nur erst noch nach Lamberton…“
Sie starrte förmlich ein Loch in den Karton vor sich, unfähig, etwas zu erwidern.
„Ich muss gleich Schluss machen“, meinte Patrick. „Ich wollte nur wissen, ob ich dich immer noch in dem Hotel finde, aus dem du mir zuletzt geschrieben hast – das in Marshall Meadows.“ „Ja…“, rutschte es ihr perplex heraus. „Aber ich will nicht, dass du mich besuchst, wenn du ausgebrochen bist.“
„Die sind doch selbst schuld, wenn sie nicht richtig auf mich aufpassen“, sagte er leicht gereizt.
„Was willst du in Lamberton?“, fragte sie, während sie sich mit ihrer schwitzigen Hand am Handy festklammerte.
„Du hast unsere Mutter immer gefürchtet und gehasst. Dafür, dass sie unseren Vater hat gewähren lassen. Um ihn habe ich mich schon gekümmert – und sie hat es vertuscht. Aber sie hat nichts getan, um uns vor ihm zu beschützen. Jetzt sorge ich dafür, dass du keine Angst mehr haben musst – und schenke dir etwas, womit du dich selbst verteidigen kannst.“
„Patrick, unsere Mutter ist…“ „Ich muss auflegen“, schnitt er ihr das Wort ab. „Bleib, wo du bist.“
„Ich brauche weder deine Geschenke noch deinen Schutz!“, herrschte sie ihn an. Aber als Antwort erhielt sie nur den Signalton, dass ihr Bruder aufgelegt hatte.
Ihr starrer Blick löste sich und sie beobachtete für einen Moment das Schneetreiben vor dem Fenster. Vielleicht kommt er gar nicht weit, flüsterte eine kleine, naive Hoffnungsstimme in ihrem Kopf. Aber diese Stimme kannte Patrick nicht – oder wollte ihn vielmehr nicht kennen.
Fieberhaft begann sie zu überlegen, was sie tun sollte. Trotz allem widerstrebte es Lania, ihren Bruder zu verraten – verfolgen würde man würde ihn ja ohnehin. Und wenn sie seine Spur verlieren? Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie musste etwas unternehmen – sie wusste nur noch nicht, was.
Immerhin wird er in unserem Elternhaus niemanden mehr finden, dachte sie.
- NACHTS: FAMILIE PINECONE
Sie hatten sich die warmen Decken aus dem Auto geholt und den unbeschädigten Kamin mit Holz angefeuert, das sie trockengelagert in einem Schuppen gefunden hatten. Sie lagen im kleinen Wohnzimmer des Anwesens, eng nebeneinander auf ein paar Matratzen, die sie aus den Gästezimmern geholt hatten. Trotzdem war es kalt und Mary bekam kein Auge zu, während Alfie zwischen ihr und Rose fest eingeschlafen war.
Das letzte Mal, als sie nach draußen gesehen hatte, war es noch stärker am Schneien gewesen. Der Schnee könnte bis morgen so hoch liegen, dass sie komplett eingeschneit wurden. Sie hatten ihre Sandwiches gegessen und in der Vorratskammer nach etwas zu Essen gesucht, aber bis auf ein paar Dosen Ravioli war alles verdorben gewesen.
Fred wollte morgen mit seiner Tochter zum nächsten bewohnten Haus laufen und dort um Hilfe bitten. Mary starrte an die Decke. Das Ganze war ein Alptraum. Zuhause wartete der geschmückte Tannenbaum auf sie, ein vorbereiteter Truthahn – und vor allem eine warme Wohnung und Freunde, die sie besuchen konnten.
Stattdessen saßen sie nun im verlassenen Haus ihrer Großtante Jane fest, das selbst mit einer funktionierenden Heizung nichts Wohnliches an sich gehabt hätte. Mary konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Jane ein glückliches Familienleben geführt hatte. Abgesehen von dem Foto im Schlafzimmer wies nichts mehr daraufhin, dass hier einmal mehr Leute gewohnt hatten. Als seien sie allesamt mit Sack und Pack davon und hätten Jane zurückgelassen… Sicherlich steckte mehr dahinter – aber Mary war nicht so von Geheimnissen besessen wie Alfie und auch nicht mit seiner lebhaften Fantasie gesegnet, um sich etwas passendes auszumalen.
Plötzlich klopfte es neben dem knisternden Kamin in der Wand. Mary erschrak. Auf ihre Matratze gestützt, richtete sie sich auf und starrte in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatte. Es klopfte wieder – erst genau an in derselben Stelle, dann in Marys Brust.
Sie traute sich nicht, sich zu bewegen. „Hallo…?“, wisperte sie. „Ist da jemand?“ Einerseits kam sie sich lächerlich vor, andererseits war sie sich ganz sicher, dass sie ein Klopfen gehört hatte. Jetzt waren es schnelle Schritte von jemandem, der rannte – direkt hinter der Wand. Marys Herz machte einen Satz. „Mama!“, rief sie dann und sprang auf. „Da ist jemand!“
Alle waren geweckt, aber wenigstens Alfie schien den Ernst von Marys Lage nicht zu verstehen. „Wer? Der Weihnachtsmann?“ Mary schüttelte den Kopf und begann zu flüstern, als die Schritte schlagartig verstummten. „Ich weiß es nicht. Hat das keiner von euch gehört?“ „Ich schon“, meinte Fred und richtete sich auf.
Rose blieb unbeeindruckt. „Sicher ein Marder“, vermutete sie. „Hinter der Wand ist bestimmt ein Zwischenraum.“
„Das war kein Marder – wenn überhaupt schon mehrere!“
Plötzlich knarrten über ihnen sämtliche Balken zugleich. Marys Ohren klingelten, als dazu ein schrilles Quietschen einsetzte. Die Scheiben in den Fensterrahmen begannen zu vibrieren und zu klirren.
Rose schnappte sich Alfie, hielt in fest und kauerte sich über ihn auf den Boden. „Runter, Mary, Fred! Das könnte ein Erdbeben sein!“
Es war, als schälte sich das Haus aus seiner heruntergekommenen Fassade, um den Wolf im Greisenfell zu entfesseln. Sämtliches Gebälk grollte und rumpelte, laut und bedrohlich. Alfie schrie. „Mama, ich hab Angst! Vielleicht ist das Herr Pastell!“
„Sei nicht albern, Alfie“, rief Rose, aber ihr Gesicht war kreidebleich.
Mary befand sich in verkrampfter Hocke auf dem Boden und zitterte- aber nicht vor Kälte, sondern vor Furcht. „Ich will weg hier!“ Ihr Vater schien ihr gerade zustimmen zu wollen, da polterte es mächtig und die Wand rund um den Kamin stürzte um.
„Achtung, Kinder!!!“